Die Europäische Mittelmeerakademie
Ein paar Tage nach der Reichtagswahl vom 31. Juli 1932, nach der die NSDAP erstmals die stärkste Fraktion stellte, fuhr der Berliner Architekt Erich Mendelsohn zusammen mit seinem Amsterdamer Freund und Berufskollegen Hendricus Theodorus Wijdeveld die Rhone abwärts an die Côte d’Azur.[1] Die Reise war der erste konkrete Schritt zur Umsetzung eines Kunstschulprojekts, das der Niederländer seit einiger Zeit verfolgte und das durch Mendelsohn eine neue Verortung erhielt. Wijdeveld – bekannt als Architekt und Bühnenbildner aus dem Kreis der Amsterdamer Schule sowie als Herausgeber der Kunstzeitschrift Wendingen – verfolgte seit einigen Jahren den Plan, in der Nähe von Hilversum eine „internationale werkgemeenschap“ aufzubauen. Sein Konzept, das er 1931 publizierte, war angelehnt an die Handwerkergilden der britischen Arts-and-Crafts-Bewegung und an das Bauhaus.[2]
Mendelsohn griff den Gedanken einer multidisziplinär als Arbeitsgemeinschaft angelegten Ausbildungsstätte für Künstler*innen auf, konnte Wijdeveld jedoch überzeugen, die niederländische Seenplatte gegen die blaue Küste Frankreichs und die gelbe Sonne des Midi einzutauschen. Hintergrund waren seine guten Kontakte zu französischen Politiker*innen und Kulturschaffenden sowie sein Engagement für ein geeintes Europa, als dessen historische Mitte und Identitätsstifter er das Mittelmeer betrachtete.[3]
[1] Der vorliegende Text basiert auf der Publikation der Autorin Die Europäische Mittelmeerakademie. Hendricus Th. Wijdeveld, Erich Mendelsohn und das Kunstschulprojekt an der Côte d’Azur, Zürich: gta Verlag, 2019. Im Folgenden werden lediglich Zitate und zusätzliche Informationen referenziert.
[2] H[endricus] Th. Wijdeveld. Naar een internationale werkgemeenschap, Santpoort: Mees, 1931.
[3] Luise und Erich Mendelsohn pflegten enge Kontakte zur französischen Botschaft in Berlin; Mendelsohn publizierte und hielt Vorträge auf europäischen Foren.
Der gewählte Name der Schule spiegelt seinen Einfluss: Académie Européenne Méditerranée. „Wir gründen eine ,Akademie‘“, heißt es in einem Werbeflyer, „weil sich nach einem Jahrhundert des Experimentierens die Elemente eines neuen Stils bereits offenbart haben. Wir fühlen uns ans Mittelmeer gezogen, weil dieses Meer die Grundlagen der europäischen Kultur sein Eigen nennt.“[4] Auf der Agenda der Europäischen Mittelmeerakademie standen – und damit ging sie über ihr Referenzobjekt Bauhaus hinaus – die Bilanzierung der modernen Kunst und ihre synthetische Verknüpfung mit Werten der klassischen mediterranen Tradition. Während ihrer zehntägigen Tour entlang der Côte d’Azur im August 1932 sondierten Wijdeveld und Mendelsohn bereits mögliche Standorte für ihr Vorhaben.[5]
Die Finanzierung sollte über eine Aktiengesellschaft gesichert werden. Um Anteilseigner*innen zu gewinnen, wurde noch vor Jahresende eine breit angelegte Werbekampagne in Form von Vorträgen, Artikeln und ersten Infoflyern begonnen. Anfang 1933 folgte der Druck von Briefpapier und einer hochpreisigen, europaweit verschickten Hardcover-Werbebroschüre, jeweils in 500er-Auflage in englischer, niederländischer, deutscher und französischer Version.
[4] Hendricus Th. Wijdeveld. Academie Européenne Méditerranée, vierseitige Druckschrift auf Niederländisch, Amsterdam, [vermutlich Januar] 1933, Privatarchiv der Autorin.
[5] Sowohl Erich Mendelsohn als auch H. Th. Wijdeveld berichteten nahezu täglich an ihre daheim gebliebenen Ehefrauen. Der Briefwechsel der Wijdevelds befindet sich im Wijdeveld Archive, Het Nieuwe Instituut, Rotterdam. Die Korrespondenz zwischen Erich und Luise Mendelsohn ist online zugänglich unter: http://ema.smb.museum/de/briefe.
Parallel lief die Kontaktaufnahme zu potenziellen Lehrern, sodass bereits im Februar 1933 ein respektables Kollegium aus Künstlern von internationalem Rang aufgestellt war. Zunächst konnte der französische Maler Amédée Ozenfant als dritter Direktor gewonnen werden. Mit seiner Einbindung in das Projekt wurden Spezifika der französischen Moderne wie purisme (Renheit) und retour à l’ordre (Rückkehr zur Ordnung) aktiviert, die sich im literarischen wie geschichtsphilosophischen Kontext der pensée de midi (mittelmeerisches Denken) und der longue durée (lange Dauer) verorten lassen. Ozenfant steht hier für die Rückbesinnung auf die zeitlos klassische Kultur der „Méditerranée“.[6]
Über seine persönlichen Kontakte kamen Paul Bonifas und Pablo Gargallo ins Team. Ersterer wurde als Leiter der Keramikwerkstatt vorgesehen. Der aus Genf gebürtige Töpfermeister hatte Anfang der 1920er-Jahre als Generalsekretär des von Ozenfant und Le Corbusier herausgegebenen Journals L’Esprit Nouveau gearbeitet. Der spanische Bildhauer Gargallo, ein Ateliergenosse Pablo Picassos aus den Barcelona-Tagen mit Studio in Paris, sollte die Abteilung Skulptur aufbauen. Weitere Kunstschaffende wurden von Mendelsohn und Wijdeveld berufen. Aus England sagten zwei Künstler ihre Mitarbeit zu. Serge Chermayeff, der die Sektion Innenarchitektur übernehmen sollte, war eine schillernde, vielseitige Persönlichkeit: ein in London lebender gebürtiger Tschetschene, der sich als Innenarchitekt und Designer profiliert hatte.
Für das Fach Typografie wurde Eric Gill angeworben. Er stand in der Tradition der Arts-and-Crafts-Bewegung und hatte selbst drei Gemeinschaften von Kunsthandwerkern gegründet. Als Bildhauer sowie als Schriftsetzer erreichte er einen weit über England hinausgehenden Ruhm. Für die Sektion Musik wurden Verhandlungen mit Paul Hindemith aufgenommen, der seit 1927 Komposition an der Berliner Hochschule für Musik unterrichtete. Mit diesen fünf Künstlern wurde der Reigen der zukünftigen Sektionsleiter der Akademie zunächst geschlossen. Die drei Direktoren selbst wollten die Abteilungen Theater (Wijdeveld), Malerei (Ozenfant) und Architektur (Mendelsohn) übernehmen. Die Besetzung zusätzlich geplanter Werkstätten für Tanz, Textil, Fotografie und Film war zu einem späteren Zeitpunkt vorgesehen.
Noch eindrucksvoller als die Liste der zukünftigen Lehrer sind die Namen des 24-köpfigen Ehrenkomitees. Mit Albert Einstein an der Spitze setzte es sich aus bedeutenden Männern der Kunst, Politik und Wissenschaft zusammen und einer Frau, der CIAM-Initiatorin Hélène de Mandrot de Sarraz. Neben einer internationalen Garde von Architektenberühmtheiten wie Hendrik Petrus Berlage, Auguste Perret, Charles Herbert Reilly, Raymond Unwin, Henry van de Velde und Frank Lloyd Wright traf man in diesem Gremium auf den englischen Bühnenbildner Edward Gordon Craig und den österreichischen Theaterregisseur Max Reinhardt, den französischen Lyriker und Essayisten Paul Valéry, die Musiker Leopold Stokowsky und Igor Strawinsky.
[6] Vgl. Amédée Ozenfant. Art: I. Bilan des arts modernes en France: littérature – peinture – sculpture –architecture – science – religion – philosophie. II. Structure d’un nouvel esprit, Paris: Picart, 1928.
Mit einem derartig prominenten Aufgebot, das dem Unternehmen intellektuelle Verankerung und internationale Vernetzung garantierte, lief die Zeichnung von Aktien zunächst erfolgversprechend an. In Cavalière zwischen Le Lavandou und Saint-Tropez konnte Mitte 1933 „ein herrliches Grundstück von 104 Hektar“ angekauft werden, „abgesondert von allen Ablenkungen der Riviera und doch auf den internationalen Linien der Kommunikation“.[7] Wenig später wurden europaweit Immatrikulationsformulare verschickt. Die Studiengebühren lagen – inklusive Unterkunft und Verpflegung – für die auf drei Jahre angesetzte Ausbildungszeit bei insgesamt 45 000 Francs.
Das vorläufige Lehrangebot der Akademie, deren Eröffnung für den 1. März 1934 angekündigt wurde, war zunächst auf die Architekturklasse beschränkt. Wie bei Frank Lloyd Wrights Taliesin Fellowship, an deren ursprünglicher Konzeption Wijdeveld mitgearbeitet hatte, sollten die Studierenden an der Errichtung der Gebäude beteiligt werden. Wijdevelds Entwurfszeichnungen, die er um den Jahreswechsel 1933/34 anfertigte, orientieren sich stilistisch an zwei auf dem Grundstück bestehenden einfachen Häusern aus unverputztem Bruchsteinmauerwerk mit ziegelgedeckten Satteldächern. Den Typus der lokaltypischen anonymen Architekur aufnehmend, stellte Wijdeveld in lockerer Verteilung seine Atelier- und Wohnbauten in die unmittelbare Nachbarschaft. Als zentralen Ort des Campus skizzierte er einen Versammlungsplatz mit offener Sommerbühne.[8]
[7] [Hendricus Th. Wijdeveld, Erich Mendelsohn und Amédée Ozenfant (Hg.)]. The European Mediterranean Academy, englischsprachiger Informationsprospekt, Mitte Juli 1933, Erich Mendelsohn Archiv, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz.
[8] Es existieren Entwurfszeichnungen aus unterschiedlichen Planungsphasen; das gesamte Planmaterial befindet sich im Wijdeveld Archive, Het Nieuwe Instituut, Rotterdam.
Gemäß Ankündigung versammelte sich am 1. März 1934 eine kleine Gruppe in Cavalière, um das Unternehmen Académie Européenne Mediterranée in Betrieb zu nehmen. Keiner der ursprünglich angeworbenen Lehrer war darunter, nicht einmal Mendelsohn, der von seinem zusammen mit Serge Chermayeff neu gegründetes Architekturbüro in London in Anspruch genommen wurde. Auf dem zugewachsenen Terrain vor Ort gesellten sich zu Wijdeveld, seiner Frau Ellen und weiteren Familienmitgliedern einige wenige Schüler sowie der Landschaftsarchitekt Reinhold Lingner, der später in der DDR Karriere machen sollte, und seine Frau, die Kunststudentin und profilierte Fotografin Alice Kerling.[9]
Die bescheidenen Bemühungen der kleinen Gruppe, die mediterrane Wildnis in einen Garten Eden zu verwandeln, wurde knapp fünf Monate nach ihrer Ankunft durch einen verheerenden großflächigen Brand zunichte gemacht. Wijdeveld beschrieb den Anblick als „Schlachtfeld“[10]. In denkwürdiger Weise scheint das Schicksal der Akademie die historischen Ereignisse vorweggenommen zu haben.
[9] Spärliches Material zum 14-monatigen Aufenthalt von Reinhold Lingner und Alice Kerling in Cavalière befindet sich im Nachlass Reinhold Lingner, Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner
[10] Hendricus Th. Wijdeveld, Brief an Erich Mendelsohn mit Kopie an Jean Ehrlich, Cornelia Langelaan-Stoop, Clément Antoine Wertheim Aymès, Amédée Ozenfant und Ossip Bernstein, Cavalière, 18. Juli 1934, Erich Mendelsohn Archiv, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz.
vertritt an der ETH Zürich die Professur Kunst- und Architekturgeschichte. Nach einem Studium der Kunstgeschichte und Philosophie befasste sich ihre Dissertation mit Erich Mendelsohns Bauten und Projekten im britischen Mandatsgebiet Palästina. Ita Heinze-Greenberg lehrte am Technion in Haifa sowie an der Bezalel Akademie in Jerusalem, an der Universität Augsburg, der TU München und der TU Delft. Sie forscht seit 2012 als Senior Scientist am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich. Ita Heinze-Greenberg arbeitet ausserdem als freie Autorin. Forschungsschwerpunkte und Publikationen von Ita Heinze-Greenberg umfassen die Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts mit Fokus auf dem Neuen Bauen im mediterranen Raum, speziell in Israel, im Kontext von Migrationsforschung, Identitätskonstruktionen und nation-building. 2019 hat sie beim Zürcher gta-Verlag die Publikation “Die Europäische Mittelmeerakademie. Hendricus Th. Wijdeveld, Erich Mendelsohn und das Kunstschulprojekt an der Côte d’Azur” vorgelegt.