“Der ESDI-Pavillon hat diskutiert, was Design war, was Design in und für Brasilien war. Wir wollten, unter anderem, dass sich die Hochschule der brasilianischen Realität zuwandte.” [1]

 

[1] Maria Valderez, in: Ana Luiza de Souza Nobre: Carmen Portinho: o moderno em construção. Rio de Janeiro: Relume Dumará, 1999.

 

Die Escola Superior de Desenho Industrial (Hochschule für Industriedesign, ESDI) in Rio de Janeiro entstand 1962 durch eine staatliche Initiative. Sie galt als eine der ersten und wichtigsten modernen Designschulen in Lateinamerika.[2]
In der Nachkriegszeit hatte die Industrialisierung jährlich um 16 Prozent zugenommen, eine Leistung, mit der Brasilien an die erste Stelle in Lateinamerika rückte.[3] Die ESDI eröffnete mitten in den euphorischen Industrialisierungsanstrengungen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die von Präsident Juscelino Kubitschek gefördert wurden. Er erbaute von 1956 bis 1960 unter dem Motto „Den Fortschritt von 50 Jahren in fünf Jahren“ die modernistische Hauptstadt Brasilia. Die lokale Wirtschaftsentwicklung der Nachkriegszeit war auch ein Ergebnis der US-Expansion auf dem lateinamerikanischen Kontinent, die multinationale Konzerne, industrielle Produkte und kulturelle Institutionen der USA in Brasilien dominant machte. Staatliche Behörden und Manager hatten jedoch höhere Ziele für die ESDI. Der Gouverneur des Bundesstaats Rio de Janeiro, Carlos Lacerda, merkte an, dass es die Aufgabe der ESDI für Brasiliens Entwicklung sei, „Fachleute zu schulen und die Form zu nationalisieren“.[4]
Für Mauricio Roberto, 1963/64 der erste Direktor der ESDI, sollten an der Schule industriell herstellbare Produkte entworfen werden, um dem Land zu helfen, „keine Lizenzgebühren mehr für importierte Patente zu zahlen und ästhetisch ansprechende Objekte herzustellen, die nicht nur für das Vergnügen einer kleinen privilegierten Minderheit bestimmt waren.“ Die ESDI hatte also die Aufgabe, Brasilien seine eigene „Form“ zu geben – funktional und ästhetisch – und das Land zugleich aus den finanziellen Klauen der multinationalen Konzerne zu befreien. Diese Mission wurde von der Tatsache unterstützt, dass die ESDI mit ihren organisatorischen und pädagogischen Strukturen im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens autonom blieb. Weil sie weder der Industrie noch anderen Bildungseinrichtungen unterstellt war, wurde die ESDI zu einer bedeutenden Arena, in der Brasiliens ökonomische und industrielle Abhängigkeit in den 1960er-Jahren kritisch hinterfragt wurde. Inmitten eines ausufernden Developmentalismus, von politischem Aufruhr und einer lebendigen kulturellen Szene wurde an der ESDI auch die Implementierung einer modernen Designpädagogik in Brasilien hinterfragt – vor allem von Studierenden, wie wir später noch zeigen werden.

[2] Silvia Fernández. „The origins of design education in Latin America: from the HfG in Ulm to globalization“, in: Design Issues; 22, Nr. 1; 2006; S. 3–19. http://www.jstor.org/stable/25224027

[3] Flávio de Aquino. „Escola Superior de Desenho Industrial“, in: Revista Módulo: arquitetura e artes visuais no Brasil, 34, August, 1963, S. 32–38.

[4] Ana Luiza de Souza Nobre. Fios cortantes: projeto e produto, arquitetura e design no Rio de Janeiro (1950-70). Dissertation, PUC-Rio, 2008.

Staatliche Behörden und Manager hatten jedoch höhere Ziele für die ESDI. Der Gouverneur des Bundesstaats Rio de Janeiro, Carlos Lacerda, merkte an, dass es die Aufgabe der ESDI für Brasiliens Entwicklung sei, „Fachleute zu schulen und die Form zu nationalisieren“.[5] Für Mauricio Roberto, 1963/64 der erste Direktor der ESDI, sollten an der Schule industriell herstellbare Produkte entworfen werden, um dem Land zu helfen, „keine Lizenzgebühren mehr für importierte Patente zu zahlen und ästhetisch ansprechende Objekte herzustellen, die nicht nur für das Vergnügen einer kleinen privilegierten Minderheit bestimmt waren.“[6] Die ESDI hatte also die Aufgabe, Brasilien seine eigene „Form“ zu geben – funktional und ästhetisch – und das Land zugleich aus den finanziellen Klauen der multinationalen Konzerne zu befreien. Diese Mission wurde von der Tatsache unterstützt, dass die ESDI mit ihren organisatorischen und pädagogischen Strukturen im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens autonom blieb. Weil sie weder der Industrie noch anderen Bildungseinrichtungen unterstellt war, wurde die ESDI zu einer bedeutenden Arena, in der Brasiliens ökonomische und industrielle Abhängigkeit in den 1960er-Jahren kritisch hinterfragt wurde. Inmitten eines ausufernden Developmentalismus, von politischem Aufruhr und einer lebendigen kulturellen Szene wurde an der ESDI auch die Implementierung einer modernen Designpädagogik in Brasilien hinterfragt – vor allem von Studierenden, wie wir später noch zeigen werden.

[5] Ana Luiza de Souza Nobre. Fios cortantes: projeto e produto, arquitetura e design no Rio de Janeiro (1950-70). Dissertation, PUC-Rio, 2008.

[6] „Desenho Industrial: inscrições até dia 5.“ Diário de Noticias, 3. Juli 1963, B5.

Max Bill hat bekanntermaßen gesagt, dass der Designer im industriellen Kontext der Nachkriegszeit dafür verantwortlich war, die Gesellschaft durch verschiedene Interventionen in Gestaltungs- und Herstellungsprozessen „von der Kaffeetasse bis zur Wohnsiedlung“[7] zu verändern. Bill, ein früherer Bauhäusler, der von 1953 bis 1956 die Hochschule für Gestaltung (HfG) Ulm leitete, war in Brasilien sehr bekannt. Seine Kunstwerke wurden im Museum für moderne Kunst und auf der Kunstbiennale 1951 in São Paulo ausgestellt und prämiert. Der fruchtbare Austausch mit Lateinamerika gewann mit weiteren Aufenthalten 1953 und Besuchen von Brasilianern an der HfG Ulm weiter an Fahrt. Teil des Austauschs der HfG mit Brasilien war Otl Aichers und Tomás Maldonados Kurs Visuelle Kommunikation, der 1959 im Museum für moderne Kunst (MAM) in Rio unterrichtet wurde. An ihm nahm Goebel Weyne teil, ein späterer Dozent an der ESDI.[8] Das Gefühl, dass zwischen den beiden Hochschulen eine pädagogische Verwandtschaft besteht, hat seine Wurzeln in den späten 1950er-Jahren.

[7] Max Bill. Ansprache beim Richtfest zum 1. Bauabschnitt der HfG, am 5.7.1954. https://hfg-archiv.museumulm.de/geschichte-hfg/geschichte/

[8] Ana Luiza de Souza Nobre. „Ulm-Rio: questões de projeto“, Simpósio ENANPARQ: Trabalhos Completos, 2010. http://www.anparq.org.br/dvd-enanparq/simposios/67/67-274-1-SP.pdf

Ende 1962, als das pädagogische Modell der ESDI diskutiert wurde, waren einige HfG-Absolventen in Brasilien bereit, ihren Standpunkt zum Design, das wir von nun an „modernes Design“ nennen, zu realisieren, das heißt, Gestaltung sollte eine Aktivität sein, die mittels industrieller Kultur und Ästhetik die Gesellschaft verändert. Zu dieser Umsetzung gehörte es auch, den Lehrplan der HfG und bis zu einem gewissen Grad auch den des Vorgängers der HfG, des Bauhauses, zu übernehmen und anzupassen. Die Studierenden an der ESDI durchliefen einen einjährigen „Grundkurs“, der ihr ästhetisches Wissen durch die Entwicklung ihrer Fähigkeiten in der Wahrnehmungstheorie, technischem Zeichnen, visueller Methodik und Übungen in 2-D- und 3-D-Techniken zusätzlich zu Physik, Mathematik und Fotografie schulen sollte. Kurioserweise verbrachten die Studierenden fast die Hälfte ihres ersten Jahres in Werkstätten, damit sie sich mit den Materialien vertraut machten, ein Learning-by-Doing-Erbe des Bauhauses. Der Grundkurs entschied auch darüber, wer weiterstudieren konnte. Wer den Grundkurs bestand, spezialisierte sich in den folgenden drei Jahren auf Industriedesign oder visuelle Kommunikation. Das unterschied die ESDI von der HfG, denn die Studiengänge Architektur oder Industriebau wurden nicht angeboten.
Zwei HfG-Absolventen waren für die Entwicklung des modernen Designs in Brasilien und das Bekenntnis der ESDI zum Credo der Moderne bezüglich industrieller Kultur und Ästhetik von entscheidender Bedeutung: Karl Heinz Bergmiller, ein deutscher Industriedesigner, der bei Bill studiert und gearbeitet hatte und in den späten 1950er-Jahren nach Brasilien auswanderte, und Alexandre Wollner, ein brasilianischer Grafikdesigner, der gezielt nach Ulm ging, um an der HfG zu studieren. An der ESDI koordinierte Bergmiller den Studiengang Industriedesign und arbeitete als Produkt- und Ausstellungsdesigner sowie als Ausstellungsdirektor am MAM. Wollner war ebenfalls außerhalb der Schule sehr erfolgreich und koordinierte den Studiengang visuelle Kommunikation. Goebel Weyne unterrichtete nicht nur visuelle Kommunikation, sondern trug auch nach den 1960er-Jahren noch jahrzehntelang aktiv innerhalb und außerhalb der ESDI zur Entwicklung des modernen Designs bei.
Es wäre aber nicht korrekt, das Bildungsmodell der ESDI und ihr Curriculum grundsätzlich als von der HfG kopiert oder importiert zu charakterisieren, vor allem in ihren ersten zehn Jahren. Zum einen kamen die Lehrenden aus den unterschiedlichsten Berufsfeldern, darunter der Journalist Zuenir Ventura, Kunstkritiker und Kurator Frederico Morais sowie der vom Rechtsanwalt zum Grafikdesigner gewordene Aloísio Magalhães, um nur einige zu nennen. Sie sorgten für unterschiedliche Zugänge der Schule zu Massenkommunikation, Medien und Informationstheorie. Andere wie Daisy Igel boten eine Haltung zu Design und Designausbildung an, die ein Konkurrenzmodell zur HfG bildete. Igel war Architektin und hatte ihren Abschluss am New Bauhaus gemacht, wo sie bei Ludwig Mies van der Rohe, Richard Buckminster Fuller und Konrad Wachsmann studiert hatte, und sie hatte eng mit Josef Albers zusammengearbeitet. An der ESDI warb Igel für „intuitives Experimentieren“[9], das mehr mit dem kunstorientierten und selbstexpressiven Designansatz des Bauhauses gemein hat.[10] Sie unterrichtete im Grundkurs visuelle Methodik mittels einer eher sensorischen als systematischen Annäherung an die visuelle Bildung, bevor sie die Schule 1968 verließ. Der andere Grund dafür, dass sich das pädagogische Modell und Curriculum der ESDI radikal von dem der HfG unterschied, findet sich in der problematischen politischen, sozialen und kulturellen Lage in den 1960er-Jahren, ein zentraler Aspekt für die Diskussion in diesem Artikel. Während staatliche Autoritäten, Schuldirektoren und HfG-Absolventen das moderne Design als Weg propagierten, auf dem Brasilien seine wirtschaftliche Rückständigkeit überwinden konnte, hinterfragten die Studierenden den Glauben an das moderne Design, wie wir weiter unten zeigen werden.

[9] Ana Luiza de Souza Nobre, 2010, S. 19.

[10] Holt 2019, 140

Die ESDI war immer eine kleine und – bis vor Kurzem – privilegierte Schule. Sie liegt mitten in Rio de Janeiro auf einem von einer Mauer umgebenen Grundstück mit niedrigen Gebäuden für Klassenräume und Werkstätten (Abbildung 2). Bis heute nimmt die Hochschule nur eine Klasse pro Jahr auf. Von 1963 bis 1968 sind nicht mehr als 120 Studierende durch ihre Tore gekommen. Außerdem waren die Lehrenden nicht viel älter als die Studierenden, und beide Gruppen stammten aus einem privilegierten sozioökonomischen Umfeld. Studierende und Lehrende waren zum größten Teil weiß, männlich und „intellektuell kultiviert“, wie man damals zu sagen pflegte. Die soziale Zusammensetzung an der ESDI spiegelte die der brasilianischen Mehrheit nicht wider. Erst in den 2000er-Jahren veränderte sich die Demografie der Schule im Hinblick auf Schicht und soziale Herkunft, nachdem ein staatliches Förderprogramm Zulassungsquoten für schwarze Studierende und solche aus sozial schwachen Familien festgelegt hatte.

ESDI – Klassenräume und Werkstätten. ESDI-Archiv

In einem Interview für dieses Projekt verglich Patricia Aquino (zugelassen 1966) das Studium an der ESDI mit einem Abenteuer. Vor 1966 „war noch keine Gruppe von der ESDI abgegangen, und niemand wusste so genau, was der moderne Beruf des Designers oder der Designerin war oder sein könnte … die Studierenden, die in den ersten Jahren ihres Bestehens an die ESDI gingen, waren abenteuerlustig“, sagte sie.[11] Das Aufnahmeverfahren der ESDI war langwierig und anstrengend. Die Bewerber*innen mussten eine Sprachprüfung in Portugiesisch und einer Fremdsprache bestehen, einen beruflichen Eignungstest machen und schwierige Fragen beantworten, um ihr „nível cultural“ (kulturelles Niveau) unter Beweis zu stellen. Schon allein der Begriff bezeugt den Klassismus und die kulturelle Voreingenommenheit bei der Auswahl der ESDI-Studierenden. Dieser „Kulturtest“ enthielt offene Fragen wie die aus der Aufnahmeprüfung von 1968 (Exame de Habilitação 1968): „Mit welchen Schulen oder Bewegungen sind die folgenden Namen verbunden? a) William Morris, b) Hermann Muthesius, c) Walter Gropius und d) Max Bill.“ Oder: „Unterscheiden Sie zwischen Massenkultur und Massenkommunikation.“ Diese Fragen waren darauf ausgerichtet, das Allgemeinwissen und die Fachkenntnisse der Bewerber*innen sowie ihr kritisches und schlüssiges Denkvermögen zu testen. Zum Schluss traten die Bewerber*innen vor ein fünfköpfiges Komitee und wurden in einer haarigen mündlichen Prüfung weiter befragt. Aquino erinnerte sich an eine Freundin, die gefragt wurde, was sie von einem Stuhl hielt. Sie sagte: „Dazu kann ich nichts sagen. Ich habe nicht darauf gesessen“, eine Antwort, die dazu führte, dass das Komitee sie annahm, was wiederum beweist, dass das Zulassungsverfahren von Unsicherheit und Subjektivität geprägt war.

[11] Patricia Aquino. Interview mit Clara Meliande, 12. August 2021.

Die erste Absolvent*innengruppe verließ die Schule 1966. Flávio de Aquino (ESDI-Direktor, 1964–1967) nannte sie „Versuchskaninchen“. Sie sollten die „ersten nationalen Designer“ werden und „die ersten Lehrenden zukünftiger Designhochschulen, die mit Sicherheit in Brasilien entstehen werden“.[12]
Es ist wichtig, den offiziellen Diskurs, mit dem die Einrichtung der ESDI unterstützt wurde, von dem zu unterscheiden, was in den ersten fünf Jahren ihres Bestehens in der Schule geschah. Für Lacerda sollte die ESDI die „Form nationalisieren“, während Roberto fand, die Schule werde Brasilien seine „eigene Form“ geben. Beide Annahmen gehen davon aus, dass es auf nationaler Ebene an Ästhetik fehlte. Ähnlich argumentierte Flávio de Aquino, der fand, dass die ESDI auf nationaler Ebene oft eine Vorreiterin für die gerade entstehende Designszene war. Aber es gab natürlich schon viele, die sich mit Design beschäftigten, deren Berufsbezeichnungen sie aber als Künstler*innen, Architekt*innen, Ingenieur*innen oder Techniker*innen auswiesen. Außerdem widerlegt ein eingehender Blick auf das kreative Leben an der Hochschule (und außerhalb von ihr) die Vorstellung, die von der Regierung vertreten wurde und nach der es eine Leere gab, die gefüllt werden musste.
Die Ausstellungs- und Vortragsreihe „Der Künstler und die brasilianische Massenikonografie“ (O Artista e a Iconografia Brasileira de Massa, Abbildung 3) liefert gute Beispiele dafür, dass es in der ESDI (und in der brasilianischen Gesellschaft insgesamt) reichlich ästhetische Experimente und kulturelle Reaktionen auf die Probleme der Zeit gab. Diese Veranstaltung fand im ersten Semester 1968 hochschulweit statt und war mit dem Kurs über zeitgenössische Kultur verbunden, den der Kunstkritiker Frederico Morais leitete. Sie wurde von Studierenden und Lehrenden organisiert und als kritische Auseinandersetzung mit der Massenkultur und den Massenkommunikationssystemen in Brasilien verstanden. Das Event brachte Prominente aus dem Fernsehen, Bühnenkünstler*innen, Filmemacher*innen, Designer*innen und Künstler*innen zusammen, von denen viele bereits an der ESDI aktiv waren, und wurde zu einem lebendigen Knotenpunkt der Kreativität und des Kulturlebens. In den frühen 1960er-Jahren erlebte Brasilien einige seiner langfristig wirkungsvollsten und wichtigsten Durchbrüche, darunter das Cinema Novo (neues Kino) und Tropicália – eine Bewegung, die Musik, Kunst, Film, Theater und Literatur umfasste und einige der scheinbar unvereinbaren populären und avantgardistischen Kulturformen, heimische und ausländische Referenzen mobilisierte und dabei eine einzigartige kulturelle und ästhetische Bestätigung erzielte. Ähnlich experimentierte das Cinema Novo mit neuen Formen des Filmemachens und rückte einige der besonderen soziopolitischen Kontexte des Landes in den Vordergrund. So entstand eine eigene brasilianische Kinoästhetik. Manche der radikalsten Cinema-Novo-Filme wurden tatsächlich im Schnittraum der ESDI bearbeitet, und einige der Vertreter der Tropicália-Bewegung wie Hélio Oiticica und Lygia Pape stellten an der ESDI aus und hielten Vorträge. Ursprünglich sollte „Der Künstler und die brasilianische Massenikonografie“ im März stattfinden. Die Eröffnung wurde aber auf den 18. April 1968 verschoben. Diese Verspätung war nicht der Inkompetenz der Studierenden anzulasten, sondern äußeren Umständen, die, wie Morais sagte, „das Leben im Land in Trauer verwandelten“[13].

[12] Carlos Dantas. „ESDI: entrevista com Flávio de Aquino.” Correio da Manhã: Coluna de Itinerário das Arte Plásticas de Jayme Maurício. 26. April 1966, B2.

[13] Frederico Morais. „Crise estudantil adia a exposição.“ Diário de Noticias, 9. April 1968, B3.

Poster, Der Künstler und die brasilianische Massenikonografie. ESDI-Archiv

1964 setzte eine Militärjunta den Präsidenten João Goulart ab und richtete eine Diktatur ein, die nach und nach und unter Einsatz von Gewalt die demokratischen Rechte und die Menschenrechte im Land aushöhlte. Sie legte ihr Veto gegen direkte Wahlen ein und folterte und ermordete politische Dissident*innen (Abbildung 4). Am 29. März 1968 wurde der 16-jährige Edson Luis in einem Studierendenrestaurant von der Polizei getötet. Das führte zu einer landesweiten Welle der Trauer und immer vehementer werdenden Protesten. Es war seine Ermordung – das erste in einer Reihe von dramatischen Ereignissen 1968, die viel Beachtung fanden –, die für die Verschiebung der Kulturveranstaltung an der ESDI verantwortlich war und die einen radikalen Wandel im Kampf für die brasilianische Demokratie markierte. Zuenir Ventura, Dozent an der ESDI und Autor eines wichtigen Buchs über das Jahr 1968 in Brasilien, berichtet, wie sich die Eskalation der Polizeigewalt – und der zivile Widerstand dagegen – während Luis’ Beerdigung fortsetzten, als mehr als 50.000 Menschen dem Trauerzug folgten und die Stadt Rio zum Stillstand brachten.[14] Eine Woche später wurde bei einem Gedenkgottesdienst für Luis eine aus Trauernden und Protestierenden bestehende Gruppe von der berittenen Polizei an der Candelária-Kirche eingekesselt und brutal angegriffen, wodurch sich die Unzufriedenheit in der Bevölkerung nochmals verstärkte (Abbildung 5). Von April 1968 an endeten Studierendentreffen normalerweise mit Prügel von der Militärpolizei und Massenverhaftungen, was zu weiteren Demonstrationen und zivilen Vergeltungsmaßnahmen führte. Am 21. Juni, der als „Blutiger Freitag“ bekannt wurde, tötete die Polizei weitere Menschen und nahm Massenverhaftungen vor (Abbildung 6). Fünf Tage später begann mit dem „Marsch der Einhunderttausend“ eine Eskalation der Unruhen, bei denen Zivilisten auf die Straße gingen und ein Ende der Militärdiktatur und Polizeigewalt forderten (Abbildung 7). Bildungseinrichtungen waren besondere Ziele dieser Gewalt. Am 27. September drang die mit Gasbomben und Maschinenpistolen bewaffnete Militärpolizei in die ESDI ein, durchsuchte den Campus, bedrängte die Studierenden und drohte ihnen mit Verhaftung.[15]
Zwei wichtige Ereignisse in der Geschichte des modernen brasilianischen Designs und seiner Entstehung – sowie der Kontroverse darüber – fielen in eine Zeit bis dato ungekannten politischen Aufruhrs. Ab Anfang 1968 wurden Versammlungen mit Studierenden und Lehrenden veranstaltet, um die Unzufriedenheit mit der Lehrplanstruktur und dem didaktischen Ansatz der ESDI zu diskutieren. Ohne zu einer Einigung zu gelangen, steckten die Beteiligten in einer Sackgasse. Im Juni begannen die Studierenden einen Streik, der 14 Monate lang alle regulären Lehrveranstaltungen lahmlegte.[16] Dennoch unterschrieb die Direktorin Carmen Portinho im Juli mit dem Außenministerium der Militärregierung einen Vertrag über die Ausrichtung der ersten internationalen Biennale für Industriedesign in Brasilien. Mit Unterstützung der brasilianischen Vereinigung für Industriedesign, der Stiftung für die Biennale São Paulo, der Nationalen Industrievereinigung und des Museums für moderne Kunst in Rio sollte die Biennale im November desselben Jahres in Rekordzeit eröffnet werden und auch eine Ausstellung von ESDI-Studierenden zeigen. An dieser Schnittstelle von politischem Aufruhr, wachsender Unzufriedenheit bei den Studierenden und einem internationalen Event, das vor den Augen der Öffentlichkeit stattfinden sollte, wurde Geschichte geschrieben.

[14] Zuenir Ventura. 1968: O Ano que não terminou. Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 1988.

[15] Ebd.

[16] Pedro Luiz Pereira de Souza. ESDI: biografia de uma idéia. Rio de Janeiro: Ed.UERJ, 1996, S. 154.

Übernahme des Forts Copacabana, Militärputsch in Brasilien, Rio de Janeiro, 5 Uhr morgens, aufgenommen am 1. April 1964, veröffentlicht am 2. April 1964. Evandro Teixeira/Sammlung des Instituto Moreira Salles
Menschen werden an der Candelária-Kirche zusammengedrängt und brutal von der berittenen Polizei angegriffen. Evandro Teixeira/Sammlung des Instituto Moreira Salles
Fall und Tod eines Studenten aus der Studierendenbewegung, Blutiger Freitag, am Theatro Municipal, Cinelândia, 1968. Evandro Teixeira/Sammlung des Instituto Moreira Salles
Marsch der Einhunderttausend, Rio de Janeiro, 1968. Evandro Teixeira/Sammlung des Instituto Moreira Salles

Aus der ersten Absolvent*innengruppe 1966 drängten einige Dozent*innen und Studierende vermehrt auf eine Reform des ESDI-Curriculums und der pädagogischen Methoden. Anfang 1968 erreichte dieser Druck einen Höhepunkt. Einige Studierende waren 1967 durch den Grundkurs gefallen und sollten die Hochschule verlassen. Die Betroffenen gaben aber an, überhaupt nicht zu verstehen, warum sie durchgefallen waren. Mit Unterstützung der Studierendenvertretung verlangten sie mehr Transparenz bei den Bewertungen und beschuldigten die Lehrkräfte, nach subjektiven Bewertungsmaßstäben vorzugehen und autoritär zu sein. In den Sommerferien 1967 versuchte der Lehrkörper der ESDI, eine Reform durchzuführen und das Curriculum zu vereinfachen. Neue Lehraktivitäten und Aufgaben für die Studierenden wurden im März 1968 bei der Eröffnungsversammlung präsentiert, an der Studierende und fast alle Lehrkräfte teilnahmen. Die Studierenden bewerteten den neuen Vorschlag als unzureichend. Sie bestanden darauf, dass manche Lehrer*innen autoritär waren und es ihnen an didaktischem Können fehlte, und forderten, dass vor allem einem bestimmten Lehrenden gekündigt werde.
Das waren Zeiten der Krise und harter Arbeit. Der Versammlung im März – die erste gemeinsame Anstrengung der Verwaltung, des Lehrkörpers und der Studierenden zur Überarbeitung des Lehrplans und der pädagogischen Methoden – folgten noch mehrere andere. Sie sollten eine Retrospektive und kritische Analyse der ersten fünf Jahre der ESDI sein und zielten auf ein gemeinsames Lehr- und Lernprojekt ab, doch Lehrende und Studierende gerieten häufig aneinander, eine Pattsituation, die dazu führte, dass im Juni alle Lehraktivitäten ausgesetzt wurden. Der experimentelle Geist, der während der ersten fünf Jahre der Hochschule geherrscht hatte, führte zu einem kreativen Streikansatz. Mehrere Studierende trafen sich weiterhin täglich, um die grundlegenden Probleme der Hochschule zu diskutieren und ihre Zukunft neu zu definieren.
Eines der wesentlichen Probleme, die sie identifizierten, war die Frage, welche Art von Beruf an der ESDI erlernt werden konnte und wie die Absolvent*innen mehr zum Arbeitsmarkt und zu den Industrialisierungszielen des Landes beitragen konnten. Bald nach Ausrufung des Streiks begannen diese Studierenden ihr Arbeitsmarktprojekt, mit dem sie Arbeitsmöglichkeiten für Designer*innen untersuchen, kartieren und analysieren wollten. Portinho und Lehrende wie Aloísio Magalhães begleiteten und unterstützten das Projekt, weil es bei der Reform des Curriculums helfen würde und den Lehrplan „den Anforderungen des Arbeitsmarkts und der Realität der nationalen Industrieparks und der Grafikbranche“ anpassen würde.[17]
Die Ergebnisse des Arbeitsmarktprojekts waren entmutigend. Die Studierenden berichteten, dass es kaum Arbeitsplätze gab, potenzielle Arbeitgeber nicht verstanden, worum es beim Beruf der Designer*innen ging, und – am entscheidendsten – dass Designer*innen, die gerade ihr Studium beendet hatten, vor der entmutigenden Aufgabe standen, einen Arbeitsmarkt umzuformen, der nicht auf sie vorbereitet war. Bei einer Versammlung im August präsentierten sie ihre finsteren Schlussfolgerungen und nannten sie „ein strukturelles Dilemma: Die Einrichtung der ESDI war übereilt und hatte die Stufe der industriellen Entwicklung des Landes nicht berücksichtigt.“[18]
Während der Streik auch im zweiten Semester weiterging und das Arbeitsmarktprojekt sich weiterentwickelte, wurde die Teilnahme der ESDI an der Biennale bestätigt. Obwohl die Hochschule sich in diesem aufrührerischen Zustand befand, musste sie die Ausstellung planen. Unter der Leitung von Bergmiller und Weyne arbeitete eine Gruppe von Studierenden unermüdlich daran, die Ausstellung als solche im MAM aufzubauen. Ein anderer Teil der Hochschule, vorwiegend Studierende, übernahm die Verantwortung für die Ausstellung, die als ESDI-Pavillon bekannt wurde. Angetrieben von den entscheidenden Problemen, die sich aus den Erkenntnissen des Projekts ergeben hatten, fragten sie: „Wer entwirft etwas in Brasilien? Was ist Design? Für wen werden wir etwas entwerfen und wie?“[19]

[17] Carmen Portinho. Carta às indústrias. Rio de Janeiro: ESDI-Archiv, Escola Superior de Desenho Industrial, 1968.

[18] Comissão de Currículo 1968

[19] Patricia Aquino. Interview mit Clara Meliande, 12. August 2021.

Am 5. November wurde die Biennale eröffnet und wurde zum Erfolg. Die Teilnehmenden kamen aus dem In- und Ausland. Erstere zeigten Industriedesign und Arbeiten der visuellen Kommunikation von zehn modernen brasilianischen Designer*innen. Zu den ausländischen Aussteller*innen gehörten solche aus Großbritannien, den USA und Kanada (Abbildung 8). Doch aufgrund der Eile, mit der die Ausstellung organisiert worden war, waren die meisten Exponate nicht reale Objekte, sondern großformatige Fotos von rational designten Produkten aus der Massenproduktion, die an den Wänden der modernistischen Räume mit offenem Grundriss im MAM aufgehängt waren (Abbildung 9).
Der ESDI-Pavillon allerdings war etwas ganz anderes. In ein paar Räumen am Ende der offenen Ausstellungsräume des MAM zeigten Studierende, wie sie den Zustand der brasilianischen Industrialisierung und des modernen Designs im Land bewerteten. Am Eingang begrüßte eine Ready-made-Provokation auf einem Sockel die Besucher: ein „Vakuumbesen“, der zum Teil aus dem Körper und Schlauch eines industriell hergestellten, mit Strom betriebenen Plastikgeräts bestand, das Dreck aufsaugen sollte, und zum Teil aus einer durch menschliche Arbeit angetriebenen Technik aus Borsten und Holz, mit der man fegen konnte (Abbildung 10). Im Brasilien des Jahres 1968 lagen Welten zwischen diesen beiden Technologien. War der Besen allgegenwärtig, billig und intuitiv zu benutzen, war ein Staubsauger teuer und ein exklusives Konsumgut, das dafür stand, wie die multinationalen Konzerne den Markt im Griff hatten – ein Zustand, von dem die Studierenden der ESDI fürchteten, dass sie ihn nicht würden überwinden können. Im Pavillon beherbergte ein Raum eine weitere Darstellung, Das Bankett des Konsumerismus (Abbildung 11). Diese Provokation bestand aus einem langen Tisch, auf dem eine Fülle von Konsumartikeln sorgfältig arrangiert war. Hier kritisierten die Studierenden mit den Mitteln der Parodie, wie sich das moderne und das Industriedesign im Rahmen des neuen Nachkriegsparadigmas vom ausufernden Konsum übermäßig von importierten Waren aus dem Ausland abhängig machte.
Der ESDI-Pavillon hob sich drastisch von der übrigen, „offiziellen“, formal kontrollierten, modernistischen Biennale ab (Abbildungen 12 und 13). Lygia Pape, eine Vertreterin der Kunstbewegung Tropicália, beschrieb diesen Kontrast lebhaft in ihrem Artikel „Dies ist unser Schrei“, der in vielen Zeitungen veröffentlicht wurde. Sie fand, die Biennale war „für den lateinamerikanischen Geschmack etwas grau. Das Protokoll ist sehr streng, der physische Aspekt der Biennale mit ihren Tafeln, Texten und nur wenigen echten Objekten vermittelt dem Betrachter eine irgendwie metaphysische Stimmung … Es blieb ein gewisser Ästhetizismus. Das exquisite und schöne Plakat entspricht kaum dem allgemeinen Geschmack. Aber der sehr tropische Pavillon der ESDI auf der Biennale explodiert. Schreie. Humor. Farben sickern durch die Geschichte. Da ist es. Die Leere und die Fülle. Brasilien, Importeur der Übermutter der Formen, die sich zwischen uns schieben. Und die Lizenzgebühren. Und ein Schrei reklamiert die Schöpfung für sich. Die Geräusche wurden gehört. Der Pavillon ist wichtig. Er ist die Gestalt eines Willens. Eines totalen Willens … Die Struktur erbaut sich selbst. Das Bewusstsein ist begründet. Es ist die Arbeit. Von allen. Die Denunziation schreitet voran. Die Sprache wird sie finden. Die neue Sprache ist bereits ein Samenkorn. Anthropophagisch anthropophagisch. Brasilianische Industrie.“[20]
Hier versteht Pape den ESDI-Pavillon in seinem kulturellen Kontext. Wie bei der Tropicália mobilisiert er scheinbar unvereinbare populäre und avantgardistische Kunstformen, nationale und ausländische Bezüge bei der Gestaltung einer einzigartigen kulturellen und ästhetischen Affirmation, dieses Mal für das Design. Es war ein ausgewachsener Schrei inmitten einer ordentlichen Ausstellung, in der die brasilianische Kultur nicht vorkam.
Die Rezeption des Pavillons war zwiespältig. Er sorgte für Unbehagen, zog viel Aufmerksamkeit auf sich, wurde von einigen abgelehnt und traf bei anderen auf Applaus. Für Frederico Morais war er eine „scharfe und anarchistische Kritik am industriellen Prozess in Brasilien und den Bedingungen für das Industriedesign im Land.“[21] In den Worten eines der Pavillongestalter „hätte jeder Studierende aus Ulm die Biennale idealisieren können … Wir denken, dass der brasilianische Bereich weit weg ist von unserer Realität. Darum haben wir im ESDI-Pavillon versucht, die beiden Realitätsebenen zu zeigen, die in Brasilien nebeneinander bestehen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass gutes Industriedesign anregend auf die Produktion wirkt. Aber man muss sich darüber klar sein, dass es notwendig ist, das Bild eines falschen Optimismus angesichts unserer industriellen Möglichkeiten zu entmystifizieren.“[22] Den Pavillon zu gestalten, erforderte Mut. Auf der Höhe der internen Zusammenstöße und der Curriculumreform an der ESDI und innerhalb des MAM, einer Bastion der Moderne und des „guten Geschmacks“, provozierten die Studierenden der ESDI die Minister des Militärs, Industrielle, Fachleute, internationale Kuratoren und die Aufmerksamkeit der Presse, um gegen das zu protestieren, was sie als „imperialistisches Design“ betrachteten, sowohl in der Ausstellung als auch an der ESDI.

[20] Lygia Pape. „O grito é nosso.“ Diário de Noticias, 19. November 1968, B3.

[21] Ana Luiza de Souza Nobre. Carmen Portinho: o moderno em construção. Rio de Janeiro: Relume Dumará, 1999, S. 129–130.

[22] „Museu de arte tem exposição de desenho industrial.“ Correio da Manhã, 5. November 1968, A7.

Blick vom kanadischen Stand auf die Bienal de Desenho Industrial, Museu de Arte Moderna do Rio de Janeiro, 5. November 1968 bis 5. Januar 1969, Fotograf: unbekannt, Credit: Sammlung des MAM Rio
Blick vom brasilianischen Stand auf der Bienal de Desenho Industrial, Museu de Arte Moderna do Rio de Janeiro, 5. November 1968 bis 5. Januar 1969, Fotograf: unbekannt, Credit: Sammlung des MAM Rio
Der „Vakuumbesen”, Ready-made-Provokation auf einem Sockel, geschaffen von Studierenden der ESDI für den Pavillon der Hochschule auf der Biennale, Fotograf: unbekannt, Credit: Pedro Luiz Pereira de Souza: Karl Heinz Bergmiller: um designer brasileiro. São Paulo: Blucher, 2019 (Open-Access-E-Book)
Blick vom Didaktikstand auf der Bienal de Desenho Industrial, Museu de Arte Moderna do Rio de Janeiro, 5. November 1968 bis 5. Januar 1969, Fotograf: unbekannt, Credit: Sammlung des MAM Rio
Internationale Bienniale, Rio de Janeiro Poster, Grafikdesign: Goebel Weyne, Credit: Pedro Luiz Pereira de Souza: Karl Heinz Bergmiller: um designer brasileiro. São Paulo: Blucher, 2019 (Open-Access-E-Book).

Nach der Eröffnung der Biennale wurden die Studierendenversammlungen an der ESDI fortgesetzt. Gespräche am runden Tisch brachten Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen zusammen – Ökonomen, Industrielle, Designer. Ihnen folgten Berichte der Studierenden, die die Zukunft der Hochschule analysierten und diskutierten. Sie hätten die Grundlage für die Lehrplanreform bilden sollen, die für Ende 1968 geplant war. Am 13. Dezember aber erließ die Militärregierung den Ato Institucional Número Cinco (AI-5, Erlass Nr. 5), der die gewalttätigste Phase der Diktatur einleitete, die bis 1985 dauerte. Aufgrund des AI-5 löste die Militärjunta die Nationalversammlung und die Regionalparlamente auf, nahm die Mandate der Kongressabgeordneten zurück, setzte die politischen Rechte aller Bürger*innen für einen Zeitraum von zehn Jahren aus und verbot allen, sich zu politischen Angelegenheiten zu äußern, entließ Beamt*innen und zog das Vermögen von einzelnen Personen und Unternehmen ein. Zensur, Folter und die Ermordung von Dissident*innen waren da schon gängige Praxis, wurden aber durch die Aussetzung der Rechtsstaatlichkeit noch schlimmer. Zahlreiche brasilianische Künstler*innen, Akademiker*innen und Dissident*innen gingen ins ausländische Exil.
In der Hochschule und in ihrem Umfeld wurde es trostlos. Die HfG, die ebenso sehr ein Vorbild wie eine Nemesis für die ESDI war, wurde Ende 1968 geschlossen. 1969 leerte sich die ESDI. Mehr als ein Drittel der Studierenden verließ die Hochschule, mehrere Lehrende gaben ihre Stellung auf. Die Möglichkeit für eine radikalen pädagogischen Wandel schwand. Die Hochschule versuchte, zu einem normaleren Zustand mit weniger Widerspruch zurückzukehren. Manche Studierende versuchten, ihre regulären Aktivitäten wieder aufzunehmen, und die Ausbildung wurde mit einigen Anpassungen fortgesetzt. Hier hören wir Echos aus der Geschichte des Bauhauses, das 1933 vom brutalen Naziregime geschlossen wurde. 1968 aber ermöglichten es der politische Widerstand und der kritische Geist des Kollektivismus der ESDI, die Zukunft anders zu gestalten. Die verbleibenden Studierenden und Lehrenden hielten die ESDI am Leben, während die Panzer des Militärs auf den Straßen patrouillierten. Dennoch, die schlimmsten Jahre der Diktatur sollten erst noch kommen.

Livia Rezende und Clara Meliande

Livia Rezende, PhD (RCA) ist Designhistorikerin, lebt auf Gadigal und arbeitet an der Universität von New South Wales, Australien. Sie ist Mitbegründerin von OPEN, einem Kollektiv für dekoloniale Kunst- und Designpraxis, und eine internationale Hauptrednerin zur Geschichte des lateinamerikanischen Designs (AIGA, 2021). Ihre Veröffentlichungen erscheinen im RMIT Design Archives Journal (2021), Iberoamericana (2021), Designing Worlds (2016), Cultures of International Exhibitions (2015), Design Frontiers (2014) und im Journal of Design History (2015, 2017), dessen Sonderausgabe Locating Design Exchanges in Latin America and the Caribbean (2019) sie mit herausgegeben hat.

Clara Meliande (1980) ist eine brasilianische Grafikdesignerin, Forscherin und Pädagogin. Sie nähert sich dem Thema Design häufig auf kuratorische Weise und konzipiert Ausstellungen, Publikationen und Bildungsprojekte. Derzeit ist sie Doktorandin an der Fakultät für Industriedesign der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro (ESDI/UERJ) und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Design and Anthropology Lab (LaDA). Ihr Forschungsinteresse gilt der Geschichte der Designausbildung in Brasilien, wobei sie sich insbesondere mit Designschulen aus den 1950er und 1960er Jahren befasst, die aus verschiedenen Gründen – persönlich, politisch, umständehalber – nicht verwirklicht worden sind.