Von Ulm nach Acre im Amazonasregenwald und zurück nach Weimar und Dessau
Frühe Pläne für die Escola Superior de Desenho Industrial (ESDI, Hochschule für Industriedesign) sahen vor, dass sie 1957 mit dem Museu de Arte Moderna (MAM, Museum für moderne Kunst) in ein von Affonso Eduardo Reidy entworfenes Gebäude an der Guanabara-Bucht im Zentrum von Rio de Janeiro ziehen sollte. Schon in den frühen 1950er-Jahren gab es im MAM Anstrengungen, einen von Max Bill vorgebrachten und später von Tomás Maldonado überarbeiteten Vorschlag umzusetzen und auf dem Gelände des Museums die Escola Técnica de Criação (ETC, Technische Schule für Gestaltung) zu gründen. Der Vorschlag wurde von Designer*innen, Künstler*innen, Architekt*innen und Akademiker*innen aus Brasilien aufgegriffen und führte schließlich zur Gründung der ESDI 1962. Die Pläne für die ETC wurden irgendwann aufgegeben, und so kam es, dass die allererste, ausschließlich der Ausbildung von Designer*innen gewidmete Schule in Brasilien aus einer Initiative der Regierung des Bundeslands Rio de Janeiro hervorging.
Als ich als Studentin zur ESDI kam, wurde die Schule gerade 30 Jahre alt. Im März 1993 war mein erstes Seminar eines über die Geschichte des Designs. Der Professor, ein junger Mann, der aussah, als käme er selbst gerade erst von der Uni, schrieb ruhig einige deutsche Namen an die Tafel. Während er zwischen den großen Zeichenbrettern hin und her ging, die an den Wänden des Raums standen, fragte er jeden einzelnen von uns nach diesen Leuten. Aber niemand kannte die Namen, und bei jeder ausweichenden Antwort schrie der Professor: „Wie wollen Sie an dieser Schule studieren, wenn Sie noch nicht einmal die führenden Köpfe des deutschen Designs kennen? Ich frage mich, woher Sie kommen, wenn Sie noch nichts von diesen Pionieren gehört haben! Ich wette, dass niemand in diesem Raum weiß, wo Dessau oder Ulm liegen, oder? Nein, das wissen Sie nicht! Nicht einer von Ihnen, nicht wahr? Eine Horde von Ignoranten! Aber wie wollen Sie so einen Abschluss in Industriedesign bekommen?“ Plötzlich kamen einige ältere Studierende laut lachend durch die Tür. Es stellte sich heraus, dass dies nur ein vorgebliches Seminar über Designgeschichte war, das im Rahmen der Einführungstage für die Studienanfänger*innen veranstaltet wurde.
Die Namen auf der Tafel, wie wir später erfuhren, waren die von Professor*innen und Absolvent*innen, die wir später vielleicht kennenlernen würden. Letzten Endes, wenn auch im Scherz, vermittelten uns die älteren Studierenden in diesem ersten Seminar eine wichtige Botschaft: Um uns unseres Studienplatzes an dieser Hochschule würdig zu erweisen, mussten wir unsere Verbindungen zu einem bestimmten deutschen Erbe anerkennen.
Diese älteren Studierenden hatten gar nicht so unrecht. Im Rückblick können die Pläne für die Designhochschule am MAM und die daraus hervorgegangenen Entwicklungen, die ihren Höhepunkt in der Gründung der ESDI fanden, auf die Verbindung zu einem bestimmten Bereich des Industriedesigns in Deutschland zurückgeführt werden. So kann die Gründung der Hochschule als Folge der Zeit betrachtet werden, die der Schweizer Max Bill 1953 in Rio verbrachte. Nachdem er sich Pläne für das neue MAM angesehen hatte, schlug Bill vor, dass der Direktor des Museums auch eine Designhochschule ins Leben rufen sollte, die sich an der orientierte, die 1951 in der Stadt Ulm gegründet worden war, die Hochschule für Gestaltung (HfG).
Während seines Besuchs in Rio zeigte sich Bill zwar von dem Entwurf für das MAM von Reidy begeistert, übte aber heftige Kritik an einem besonderen Zweig der modernen brasilianischen Architektur und brachte damit öffentlich einen ihrer Hauptvertreter, Lúcio Costa, gegen sich auf. Die Debatte, bei der es um den Streit zwischen Formalismus und Funktionalismus im Projekt der Moderne ging,[1] zeigt, wie das Industriedesign nach Rio de Janeiro kam. Es unterschied sich vom Mainstream der Architektur und Stadtplanung, der in der Stadt so erfolgreich war. Um sich vom exzessiven Formalismus abzusetzen, den Max Bill in der Architektur von Lúcio Costa und Oscar Niemeyer bemängelte, verfolgte die ESDI einen mehr an der HfG orientierten Ansatz, den der Professor und Direktor der ESDI, Pedro Luiz Pereira de Souza, als technischen Formalismus definierte.[2]
[1] Zoy Anastassakis: Triunfos e Impasses: Lina Bo Bardi, Aloisio Magalhães e o design no Brasil. Rio de Janeiro: Lamparina Editora, 2014.
[2] Pedro Luiz Pereira de Souza: ESDI: biografia de uma ideia, Rio de Janeiro: Ed. UERJ, 1996.
Es vergingen aber zehn Jahre zwischen Bills Reise und der Eröffnung der ESDI, in denen die Verbindung zwischen Rio und Ulm stärker wurde. Das Projekt, eine Hochschule für Industriedesign in der Stadt zu gründen, förderte die Beziehungen zwischen Schlüsselfiguren der HfG und der Gruppe in Rio de Janeiro, die an der Entwicklung der ETC und später der ESDI arbeitete. Dazu gehörten auch einige Besuche von Vertretern aus Ulm in der Stadt, darunter nicht nur Bill, sondern auch Otl Aicher, Max Bense, Gui Bonsiepe und Tomás Maldonado. In dieser Zeit ging Alexandre Wollner, der einen Kurs in Industriedesign am Instituto de Arte Contemporânea, Museu de Arte de São Paulo (IAC/MASP) besucht hatte, von Brasilien nach Deutschland, wo er seine Ausbildung an der HfG in Ulm abschloss. Zurück in Brasilien beteiligte er sich an den Bemühungen um eine Designhochschule in Rio de Janeiro. Andere Absolventen der HfG, darunter Paul Edgar Decurtins aus der Schweiz und Karl Heinz Bergmiller aus Deutschland, kamen ebenfalls dazu. Decurtins verließ die ESDI bereits 1966 wieder. An seine Stelle trat Daisy Igel, eine frühere Studentin von Josef Albers in den USA. Wollner und Bergmiller blieben dagegen viele Jahre an der Schule.
Nachdem die ESDI das erste Industriedesignprogramm mit einem Universitätsabschluss in Brasilien und in portugiesischer Sprache gestartet hatte, war sie dafür verantwortlich, die ersten staatlich geprüften Fachleute hervorzubringen, die in diesem Bereich, diesem Land und dieser Sprache arbeiten konnten. Die Hochschule diente auch anderen Schulen als Maßstab für die Schaffung weiterer Studiengänge. So wählte das Bildungsministerium 1968 das Curriculum der ESDI als Vorlage für Schulen im ganzen Land. Seit 1963 haben mehr als 1000 Fachleute ihren Abschluss an der ESDI gemacht. Doch obwohl der deutsche Designansatz von Anfang an eine tragende Säule für die ESDI war, wurde die Bedeutung des deutschen Erbes immer wieder infrage gestellt. Daraus entstand letzten Endes ein hoch produktives Gefühl der Instabilität, das dafür sorgte, dass es keinen Stillstand gab.
Obwohl ich diese Geschichte nicht kannte, als ich als junge Frau an die ESDI kam, spürte ich intuitiv die Fäden, die die Schule formen und unter Spannung halten. Von meiner Ankunft in den frühen 1990er Jahren bis zu dem Augenblick, in dem ich diese Erinnerungen zusammenstelle, in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts, habe ich die Schule viele Veränderungen durchlaufen sehen. Und sie reichen zurück in eine Zeit, die ich mir nicht vorstellen konnte, auch wenn ich mich an diesem Ort aufhielt. Schon lange vor der Gründung einer Hochschule für Industriedesign war dies der Ort von Zusammenstößen zwischen zwei indigenen Tupinambá-Gruppen, den Tamoios und den Temiminós, die im 16. Jahrhundert um das Gebiet kämpften. Zu dieser Zeit kamen auch die ersten europäischen Invasoren und nahmen die Guanabara-Bucht ein. Wenn ich also auf diese Geschichte zurückblicke, erkenne ich, dass dies ein Ort der Begegnungen und Transformationen, Zusammenbrüche und Regenerationen ist. Und so ergeht es auch dieser alten, maroden Hochschule für Industriedesign, jedenfalls im Augenblick.
2017, als Marcos Martins und ich im Vorstand der ESDI waren,[3] fuhr ich nach São Paulo, um an der Konferenz Encontro de Antropologia da Ciência e da Tecnologia (Treffen der Anthropologie der Wissenschaft und der Technik) teilzunehmen. Zwischen den Arbeitssessions traf ich zufällig Idjahure Kadiwéu, der an ein paar Veranstaltungen an der ESDI teilgenommen hatte. Er stellte mich Professor Ibã Sales Huni Kuin vor, einer bedeutenden Persönlichkeit in der zeitgenössischen indigenen Kunstbewegung. Ich erzählte ihm von dem Zusatzprojekt, das ich bald an unserer Hochschule umsetzen wollte, ein Programm des Wissensaustauschs, mit dem wir unsere Studierenden und Professor*innen sowie indigene Künstler*innen, Aktivist*innen und Forscher*innen ansprechen wollten.[4] Ich ergriff die Gelegenheit und lud ihn an unsere Hochschule ein. Ibã Sales Huni Kuin stellte mich Amilton Mattos vor, einem Professor an der Universidade Federal do Acre und sein Supervisor bei einem interethnischen Seminar für Bachelorstudierende sowie ein wichtiger Mitstreiter im Movimento dos Artistas Independentes Huni Kuin (MAHKU, Bewegung der unabhängigen Huni-Kuin-Künstler*innen), das Ibã gegründet hatte.
MAHKU stach aus der zeitgenössischen indigenen Kunstszene in Brasilien hervor, weil die Bewegung im Zusammenhang mit den figurativen Prozessen ihres Volks so innovativ war, aber auch, weil sie die Kunst der jungen Huni Kuin vom Fluss Jordão im Amazonasstaat Acre international bekannt machte. In den vergangenen Jahren hat MAHKU Kunst- und Wahrnehmungslabore in Museen und Universitäten überall in Brasilien und weltweit veranstaltet.
Auf seinen Reisen mit MAHKU hatte Amilton zwei Filme gedreht, die Ibãs Arbeit mit den jugendlichen Huni Kuin dokumentierten. Einmal, als sie beide in der Stadt waren, zeigten wir einen dieser Filme an der ESDI. Daran schloss sich eine Diskussion mit der Anthropologin Elsje Lagrou an, die auf die Kunst der Huni Kuin spezialisiert ist. Der Film wurde draußen gezeigt, und der Abend endete damit, dass Ibã uns einlud, einen Kreis zu bilden. Hand in Hand tanzten wir gemeinsam und sangen dabei einige Lieder der Huni Kuin, die Nixi-Pae-Gesänge.
Ermutigt von der Idee, sich für Ibãs Arbeit zu engagieren, arrangierten wir seine baldige Rückkehr an unsere Hochschule. Glücklicherweise kam er nicht nur einmal, sondern zweimal wieder. Beim ersten Mal, im Oktober 2017, verbrachte er eine Woche an der ESDI, wo er ein Kunst- und Wahrnehmungslabor vorschlug, aus dem sich zwei Workshops über Gesang und visuelles Experimentieren entwickelten. Ein paar Monate später, bei seinem insgesamt dritten Besuch, unterrichtete Ibã einen weiteren Workshop zum Thema visuelles Experimentieren.
[3] Zoy Anastassakis: „Remaking everything: the clash between Bigfoot, the termites and other strange miasmic emanations in an old industrial design school“, in: Vibrant (Virtual Brazilian Anthropology), Bd. 16. Brasília: Associação Brasileira de Antropologia, 2019, S. 1–19, http://www.scielo.br/scielo.php?script=sci_arttext&pid=S1809-43412019000100202&lng=en&nrm=iso>
[4] Zoy Anastassakis: „Redesigning design in the pluriverse: speculative fabulations from a Brazilian design school in the borderlands“, in: Claudia Mareis, Nina Paim (Hg.): Design Struggles – Intersecting Histories, Pedagogies, and Perspectives. Amsterdam: Valiz, 2021, S. 169–186.
Bei beiden Gelegenheiten gingen die Workshops von der Sichtweise der Huni Kuin aus. Sie waren also Labore für Bildexperimente, aber vor allem eine praktische Erforschung des Sehens. Wie viele der Völker aus der Amazonasregion haben die Huni Kuin sehr hoch entwickelte „Sehmaschinen“[5], die als „Mittel definiert werden können, um die Wahrnehmung zu verändern. Die Vorstellung des Visuellen ist hier dasselbe wie die vom Visionären, Vision oder miração.“[6] An den ersten beiden Tagen der Workshops führte uns Ibã in das visionäre Universum des Nixi Pae ein, ein Huni-Kuin-Begriff für das Getränk ayahuasca. In Kunst- und Wahrnehmungslaboren wie denen, die am ESDI abgehalten wurden, lud uns Ibã ein, auf verschiedenen Wegen die visionäre Huni-Kuin-„Kultur“ zu besuchen. Daher schlug er vor, das Trinken von ayahuasca von der visionären Erfahrung zu lösen, und ermutigte uns, unsere miração-Fähigkeiten mit anderen Mitteln zu aktivieren, etwas durch das Erzählen von Legenden, Musik, Tanz oder visuelles Experimentieren.
Im ersten Teil des Workshops erkundeten wir, wie sich Klang sehen lässt. Alle Übungen waren so entworfen, dass sie in uns die Fähigkeit weckten, uns das, was die Lieder uns sagten, vorzustellen und in Bilder zu verwandeln. Dabei lag der Schwerpunkt auf den Mythen der Huni Kuin. Ibã sang also in seiner Muttersprache und erzählte dann auf Portugiesisch den Schöpfungsmythos der Huni Kuin, um den es in den Liedern ging. Danach lud er uns ein, einige Passagen aus dem Mythos, in dem ein Tapir die Boa-Frau erweckt, indem er drei Früchte des Jenipapo-Baums in einen See wirft, nachzuspielen. Nach dem Spiel mit dem Wasser erlebten wir den Gesang und Tanz, die mit dem Fruchtbarkeitsritual assoziiert sind, dem Katxa Naua. Gekleidet in Blätter stellten wir den Ritus nach, den die Huni Kuin durchführen, um die Ankunft der Geister der Hülsenfrüchte zu feiern, der yuxin, die für die Fruchtbarkeit der Feldfrüchte verantwortlich sind. Angeregt von diesen Erfahrungen malten und zeichneten wir die Klänge, die Ibã vorführte, und was wir uns vorgestellt hatten, als wir die yuxin trafen. Dieser ganze erste Teil des Workshops drehte sich um das Eintauchen in eine kinästhetische Erfahrung, ein wesentliches Merkmal der Kultur und Ästhetik der Huni Kuin.
Im zweiten Teil schufen die Teilnehmenden Prototypen für Daumenkinos, die die Beziehung zwischen Bild, Bewegung und Rhythmus abbildeten, die sie während des Workshops erlebt hatten. Wie Amilton Mattos sagt, sind wir in diesem Workshop vor allem auf ein visuelles Experiment als Sehmaschine eingegangen, die nicht im Dienst der Repräsentation, sondern der kinästhetischen Erfahrung selbst steht. Daher waren zuhören, singen, tanzen und malen die konstituierenden Elemente eines Eintauchens, dessen vorrangiger Zweck es war, Aufmerksamkeit für die wahrnehmungsverstärkenden Möglichkeiten zu kultivieren, die sich durch Begegnungen und kollektives Engagement aktivieren lassen.
[5] Amilton Mattos: „Máquinas de visão: o MAHKU – Movimento dos Artistas Huni Kuin – em suas práticas de experimentação visual“, in: Revista Metamorfose, Bd. 3, Nr. 1, September 2018, S. 49–72. Amilton Mattos: „The visionary art of MAKHU – Huni Kuin Artist Movement“, in: Chacruna, Oktober 2019, https://chacruna.net/the-visionary-art-of-mahku-huni-kuin-artist-movement/7/9
[6] Mattos, 2018, S. 51.
Während ich an Ibãs Kursen an der ESDI teilnahm, durchlebte ich noch einmal Seminare über „Studien der visuellen Wahrnehmung“, „Mittel und Methoden der Repräsentation“ und „visuelle Methodik“, die ich in meinem ersten Semester Design an der ESDI belegt hatte und die, wie in Ulm und am Bauhaus, Vorkurs genannt wurden. Auf eine ganz besondere Art und mit besonderen Mitteln schienen diese Seminare eng miteinander verbunden zu sein. Wir wurden ermutigt, vor allem zu zeichnen, damit wir lernten, zu sehen. Nun, als Professorin und Designforscherin, denke ich über die Verbindungen zwischen den Kursen von Ibã Sales Huni Kuin und denen nach, die von einigen Professor*innen an der ESDI gegeben wurden, etwa Silvia Steinberg und Roberto Eppinghaus.
Mich mit diesen Geheimnissen zu befassen, hilft mir, etwas aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Das fasziniert mich, seit ich als Studentin an die ESDI kam: Was in einem Designseminarraum stattfindet, unterscheidet die Ausbildung der Designer*innen stark von der gewöhnlichen Bildung. Mit anderen Worten: In einer Designschule werden wir eingeladen, andere Arten des Lernens zu erleben. Als Studentin an der ESDI nahm ich nur sehr selten an Lehrveranstaltungen teil, bei denen die Studierenden wie in Vorlesungen stillsaßen und die Lehrenden aufstanden und einen Vortrag hielten. Meistens gehörten zu unseren Erfahrungen im Seminarraum Gruppen, die gemeinsam an Projekten arbeiteten, große gemeinsam genutzte Arbeitstische, viele Zeichnungen, maßstabsgerechte Modelle, viele Gespräche und vor allem viel Bewegung. Aber wenn ich zu meinen anfänglichen Gedanken über die Geschichte der ESDI zurückkehre, betrachte ich all diese Geheimnisse auch aus einem anderen Blickwinkel. Wenn man bis heute jederzeit die ambivalente Präsenz der Hochschule für Gestaltung Ulm in unserer Hochschule in Rio de Janeiro spüren kann, warum hat mich dann der Besuch eines Professors aus den Wäldern des Amazonas nicht unbedingt nach Ulm, sondern an Orte wie Dessau und Weimar versetzt?
Geheimnisvollerweise haben mich Ibãs Veranstaltungen dazu gebracht, wieder an die ersten Augenblicke zu denken, die ich als Designstudentin erlebt habe. Und sie brachten mich auch sofort zum Vorkurs des Bauhauses, wo vielleicht entfernte Verwandte von mir die Grundlagen geschaffen haben, die unsere Hochschule mit einem bestimmten Erbe verbinden, denn die HfG Ulm ist der engste Vorfahre der ESDI, ihre Mutter, und das Bauhaus ihre Großmutter. In Ibãs Gesängen hörte ich, wie diese Großmutter mich rief. Und das spornt mich an, immer weiter nach Wegen zu suchen, nach möglichen Fäden zu suchen, die die Pädagogik der ESDI und des Bauhauses miteinander verknüpfen.
2019 hatte ich endlich die Gelegenheit, das alte Bauhaus in Dessau zu besuchen. Sobald ich einen Fuß an diesen Ort setzte, fielen mir wieder die Kurse bei Ibã Sales Huni Kuin, Silvia Steinberg und Roberto Eppinghaus ein. Kaum dachte ich an diese Seminare, stand mir auch Johannes Itten vor Augen. Ich versuchte, in dem Laden in einem der Räume des von Walter Gropius entworfenen Gebäudes etwas über ihn und die Kurse, die er unterrichtete, herauszufinden, fand aber nichts. Ich wanderte immer wieder um das Gebäude herum, dachte an Weimar, Dessau, Ulm, Rio de Janeiro und Acre und an die geheimnisvollen verwandtschaftlichen Verbindungen, die uns möglicherweise, wer weiß, miteinander verknüpfen.
(*1974) ist eine brasilianische Designerin und Anthropologin. Von 2016 bis 2018 war sie Direktorin der Escola Superior de Desenho Industrial der Universidade do Estado do Rio de Janeiro (ESDI/UERJ), wo sie als außerordentliche Professorin arbeitet. An der ESDI koordiniert sie das Laboratório de Design e Antropologia (Labor für Design und Anthropologie). Zusammen mit Marcos Martins hat sie ein Buch über die Experimente der ESDI von 2016 bis 2018 geschrieben, das unter dem Titel “Design Education and Democracy on the Edge of Collapse” in der Serie “Design in Dark Times” bei Bloomsbury erschien. In diesem Text werden einige Kapitel dieses Buchs verarbeitet.