Lehren lernen – indigene Epistemologien und Lena Meyer-Bergner in Mexiko
Das Thema eines Curriculums für die Weber*innen der Otomí ist noch nicht eingehend erforscht worden, weil es an Material fehlt, aus dem sich Genaueres über Meyer-Bergners Vorstellung von diesem Bildungsprojekt schließen ließe. Bestimmte Objekte im Archiv des Bauhauses in Dessau haben es mir aber erlaubt, die möglichen Perspektiven zu analysieren und visuelle Materialien nebeneinanderzustellen, aus denen die Textildesignerin während ihrer Zeit in Mexiko ihre Ideen für eine Webereischule bezogen haben könnte.
Die Otomí aus dem Mezquital-Tal definieren sich als hñähñü von hñä (sprechen) und hñü (nasal), also als diejenigen, die die nasale Sprache oder die zwei Sprachen sprechen.[1] Schon seit Urzeiten produziert dieses Volk unter anderem Wollteppiche, Ayate (in der Landwirtschaft benutzte Beutel) aus Agavefasern sowie auf dem Rückenbandwebrahmen hergestellte Textilien. Diese Handwerke als Träger der „indigenen Epistemologien“, die über die „kunsthandwerklichen Epistemologien“ hinausgehen,[2] sollten als Wissensschatz betrachtet werden, der Zugang zu anderen Welten erlaubt – eine Position, die Lena Meyer-Bergner womöglich ebenfalls vertreten hat.
[1] SIC MEXICO, Sistema de Información Cultural. http://sic.gob.mx
[2] Ich distanziere mich von der Vorstellung einer „Handwerksepistemologie“, denn sie verstärkt den eurozentrischen Blick auf das Konzept der Handwerkskunst als Lehrberuf, der keine ausgeprägten intellektuellen Fähigkeiten erfordert. Das Wort Handwerker*in bezeichnet im europäischen System Menschen mit besonderem Know-how, die aber nicht über wissenschaftliche Erkenntnisse verfügen. Darum neige ich eher zum Konzept der „indigenen Epistemologie“.
Obwohl es bisher keine eindeutigen Belege für die Existenz eines Curriculums für die Weber*innen der Otomí gibt, finden sich in den Texten, Zeichnungen und Textildesigns von Meyer-Bergner Hinweise, mit deren Hilfe es möglich sein könnte, ihre Vorstellungen oder womöglich ein Konzept für die Umsetzung solch eines Bildungsvorhabens zusammenzustellen. Ihre Reisen hielt sie im Reisebuch der Familie fest, das ihr tiefgreifendes Interesse an den indigenen Kulturen Mexikos belegt, das von ihrer Familie geteilt wurde. Hier können wir die Faszination und Bewunderung für die präkolumbischen Kulturen erkennen, die noch heute besteht.
Die Begeisterung für die präkolumbischen Kulturen hat koloniale Wurzeln. Seit dem 18. Jahrhundert fühlen sich Europäer*innen vom „Wesen“ der indigenen oder „primitiven“ Gesellschaften als Antwort auf ihre eigenen zeitgenössischen Probleme angezogen, was vielleicht durch die Aufklärung ausgelöst wurde. Die Einstellung zu diesen Communities änderte sich immer wieder. Im 20. Jahrhundert beeinflusste eine aufmerksamere Haltung gegenüber den Werten der „primitiven“ Völker und ihrer „Kunst“ die Künste und Wissenschaft der Epoche. Das Wort „primitiv“ wurde allgemein benutzt, um die indigenen Kulturen zu definieren, und könnte ein Weg gewesen sein, um Wissenshierarchien zu verstetigen.
Ich schlage vor, Meyer-Bergners Versuch zu betrachten, ihr künstlerisches Vokabular neu zu interpretieren und ins Spanische zu übersetzen. Ihre Notizen aus der Webereiklasse bei Gunta Stölzl während ihrer Studienzeit am Bauhaus stehen in einigen Texten neben bestimmten Webereifachbegriffen. Darin zeigt sich ihre Entschlossenheit, die Methoden des Bauhauses auch noch über die Bauhauszeit hinaus anzuwenden. Man könnte sagen, dass sie die Übersetzungen direkt auf ihre früheren Notizen geschrieben hat, um dasselbe visuelle Material wieder zu benutzen, das sie gesammelt hatte. Einiges davon war in ihren Lehrmethoden noch präsent. Nachdem sie ihr Bauhausdiplom erhalten hatte, arbeitete sie in leitender Funktion bei der Ostpreußischen Handweberei in Königsberg, einer gemeinnützigen Institution, die verarmten Bauernfamilien durch die Herstellung von Textilien ein zusätzliches Einkommen verschaffen wollte.[3]
[3] Patrick Rössler, Elizabeth Otto. Frauen am Bauhaus: Wegweisende Künstlerinnen der Moderne. München: Knesebeck, 2019, S. 90.
Bezüglich der möglichen Idee, für die Otomí in Mexiko ein Lernprogramm zu entwickeln, drückte Lena Meyer-Bergner in einem Brief an Kay B. Adams vom 15. November 1948[4] ihre Bedenken aus. Sie fürchtete, die Kunst in Mexiko könne amerikanisiert werden, um den amerikanischen Markt zu bedienen, der zum größten Teil kein Interesse daran hat, den kulturellen Reichtum zu erkunden, den ein Land wie Mexiko zu bieten hat. Im selben Brief versicherte Meyer-Bergner, dass es nicht die Aufgabe der textilen Kunst sei, die Ornamente oder Ikonografie fremder Kulturen zu imitieren, sondern dass die Textilarbeiten die eigene Kultur erhöhen sollten. Das solle innerhalb des der Kultur eigenen, natürlichen Reichtums, ihrer Tonalitäten und ihrer Dynamiken geschehen. Dieser Satz verdeutlicht ganz klar Meyer-Bergners Ansicht davon, was das Medium der textilen Kunst bieten sollte. Vielleicht ist dies wiederum ein Hinweis auf eine mögliche Schule für die Werber*innen der Otomí. Die Community soll sich auf ihre eigene visuelle Sprache konzentrieren. Das lässt sich an Meyer-Bergners Tapetendesigns mit Motiven aus der mexikanischen Flora und Personen erkennen, die traditionellen mexikanischen Motiven ähneln.
[4] Lena Meyer-Bergner an Kay B. Adams am 25. November 1948, Stiftung Bauhaus Dessau.
Meyer-Bergner war sich des Reichtums dieses Landes bewusst und konzentrierte sich auf die Erkundung der Landschaft und ihrer visuellen Komponenten, wie man an ihren Textilentwürfen sehen kann. Die indigene Epistemologie dieser Region nahm deutlich Einfluss auf die Fantasie der Künstlerin, vor allem in der Gestalt der Agave, einer der heiligen Pflanzen in Mittelamerika. Mayahuel, die Agavegöttin, die auch Maguey genannt wird, war laut der Archäologin Nicoletta Maestri die aztekische Göttin der Agave und des Pulque, eines alkoholischen Getränks aus Agavensaft.
Die Bedeutung der Agave lässt sich auch in der materiellen Kultur der Otomí erkennen. In den Familien werden die harten Fasern dieser Pflanze geschnitten, gesponnen, gewoben und verzwirnt. Diese Aktivitäten gelten als normale Familienangelegenheit. Aus der Publikation Las Industrias Otomíes del Valle del Mezquital wusste Meyer-Bergner, dass diese Tätigkeiten wichtig und heilig waren. Die Verarbeitung der Agave zu Fasern ist so wichtig, dass verstorbenen Otomí ihre persönliche malacate,[5] ihre Spindel, mit ins Grab gegeben wird. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum die visuelle Erkundung dieser heiligen Pflanze für Meyer-Bergner nahelag, was sich in ihren Stoffentwürfen erkennen lässt. Vielleicht stand dieses Material im Mittelpunkt ihrer Lehrmethoden in Mexiko.
[5] Das Wort malacate leitet sich von dem Nahuatl-Wort malacatl her, das „umdrehen“, „sich um sich selbst drehen“ bedeutet.
Diese Fallstudie wurde aus dem Blickwinkel einer Designerin und Wissenschaftlerin geschrieben, die den Blick auf die epistemologische Ungerechtigkeit[6] lenken will, die das indigene Wissen, vor allem in der neotropischen Region, erleiden musste. Die Epistemologien des Wissens in dieser Region wurden durch die externen Machtmandate wie die Kolonisation und die Perpetuierung westlicher Wissenssysteme marginalisiert.
[6] Boaventura de Sousa Santos. Epistemologien des Südens. Münster: Unrast e. V., 2021.
ist Designforscherin, Kulturproduzentin und Kuratorin und lebt in Berlin. Sie interessiert sich für Design-Anthropologie und das Verständnis von nicht-westlichen Diskursen in Design und kulturellen Praktiken. Ihre Beschäftigung mit anderen Formen des interkulturellen Dialogs führte sie dazu, sich auf die Arbeit der Künstlerinnen und Designerinen Anni Albers und Lena Meyer-Bergner und deren Verständnis von indigenem Wissen zu konzentrieren. Ihre Forschung konzentriert sich darauf, indigenes Wissen in Süd- und Lateinamerika aus einer dekolonialen Perspektive sichtbar zu machen.