Issue number: 1
30 November 2022
Lesezeit: 11′
Asia Art Archive (AAA)
Susanna Chung (SC), Programm-Managerin und Leiterin der Abteilung Lernen und Partizipation im Asia Art Archive, und Özge Ersoy (ÖE), Leiterin der öffentlichen Programme im Asia Art Archive, reflektieren über die Bildungsprogramme der Institution und ihre Rolle für die Gesamtaufgabe des Archivs.
ÖZGE ERSOY

Wir haben die an dieser Publikation Teilnehmenden durch Gudskul und die documenta fifteen kennengelernt. Die jüngste Zusammenarbeit des Asia Art Archive mit Gudskul und unser Beitrag zur documenta fifteen bauten auf unserer fortlaufenden Recherche über die Rolle der akademischen und alternativen Pädagogik bei der Entwicklung zeitgenössischer Kunst in Asien auf.

Wir erhielten von ruangrupa die Einladung, Teil einer Gruppe aus Kollektiven zu werden, die sich mit Bildung befassen. Die Ausgangsfrage war, was wir als Kunstarchiv zur Diskussion über den Wissensaustausch im Bereich Kultur beitragen können. Das Asia Art Archive ist eine gemeinnützige Organisation, die 2000 ins Leben gerufen wurde, um die notwendige Dokumentation der verschiedenen jüngeren Kunstgeschichten in dieser Region zu übernehmen. Wir haben eine Bibliothek in Hongkong, und wir haben ein wachsendes Archiv mit Primärquellen, Fotodokumentationen, Videoaufnahmen, Ephemera und anderem mehr, das wir digitalisieren und Nutzer*innen überall auf der Welt zugänglich machen – das Material ist über unsere Webseite kostenfrei einsehbar. Es ist mit Künstler*innen verbunden, die nicht nur Kunstwerke schaffen, sondern zugleich Lehrer*innen, Organisator*innen, Kurator*innen und Autor*innen sind. Wenn man also die Archive betrachtet, findet man nicht nur Materialien über eine*n Künstler*in, sondern kann auch Veränderungen, Fluktuationen und Diskussionen in den kulturellen Communitys, zu denen sie gehören, nachvollziehen.

Für unseren Beitrag zur documenta fifteen haben wir die Arbeit einer Künstler*innengruppe hervorgehoben, die sich dem Erhalt des kulturellen Gedächtnisses durch ihre Arbeit und ihre Pädagogik verschrieben hat. Wir konzentrieren uns auf die folgenden kollektiven Unternehmungen: die Künstler*innen, die mit der Kunstfakultät der Maharaja Sayajirao University im indischen Baroda verbunden sind, die Bewegung Living Traditions im Indien nach der Unabhängigkeit, das feministische Kollektiv Womanifesto, das von Mitte der 1990er- bis Mitte der 2000er-Jahre alle zwei Jahre stattfindende Events in Thailand veranstaltete, sowie Performancekünstler*innen, die mit alltäglichen Objekten und Orten arbeiteten, ihre Werke gegenseitig dokumentierten und ab den 1990er-Jahren an Performancefestivals in Ost- und Südostasien teilnahmen.

Mobile Library: Nepal at Gallery Sirjana College of Fine Arts, 2022. Courtesy of Mobile Library: Nepal.
Reading Circle at Kaalo 101, Patan, 2021. Led by Mobile Library: Nepal. Courtesy of Mobile Library: Nepal.
Asia Art Archive Library, 2022. Photo: Moving Image Studio.

Der Titel unserer Ausstellung, „Translations, Expansions“, deutet darauf hin, wie diese Künstler*innen Wissen studieren, dokumentieren und neu interpretieren, das Teil des Alltags ist – die alltäglichen und oft übersehenen Wissensarten, die jenseits von unserem Textwissen oder dem, was wir in der Schule lernen, stehen. Sie absorbieren diese Formen in ihre Arbeit und Pädagogik und reichen sie in einem veränderten Zustand an die nächste Generation weiter. Das unterscheidet sich vom traditionellen Verständnis des Kulturerhalts und prägt die Arbeit, die wir als Archiv übernehmen. Unser Ziel ist es, Ressourcen aufzubauen und sie zugleich immer weiter zu aktivieren. Darum ist es für uns so wichtig, Künstler*innen, Forscher*innen und Lehrer*innen bei der Interpretation unserer Ressourcen einzubeziehen und eine Debatte über unsere gemeinsamen Forschungsinteressen anzuregen.

SUSANNA CHUNG

Als Kunstarchiv waren wir dank einer Initiative von Gudskul, einer dem Wissensaustausch gewidmeten Bildungsplattform, an der documenta fifteen beteiligt. Unsere Zusammenarbeit mit Gudskul – bei unserem neuesten Projekt in Hongkong – ist eine Möglichkeit, etwas zurückzugeben. Dieses Mal laden wir zeitgenössische Kunstkollektive ein, sich mit einem Archiv auseinanderzusetzen, genau gesagt mit den archivalischen Ressourcen, die wir über Kunstkollektive in Asien haben. Unter dem Titel „The Collective School“ erkundet das Projekt von Künstler*innen vorangetriebene, selbst organisierte und kollektive Lernmodelle. Den Anfang dafür machte 2020 unsere Einladung an Gudskul, die wiederum acht Kollektive aus ganz Asien einlud, an der Ausstellung teilzunehmen. Sie sind auch in dieser Publikation vertreten. In der Ausstellung sehen wir ihre künstlerische Reaktion auf das Archivmaterial, etwa Videos, Skulpturen, Spiele oder Zines, die wir in Gruppengesprächen im Verlauf des vergangenen Jahres gemeinsam entwickelt haben.

Wir freuen uns sehr darüber, dass „The Collective School“ die Eröffnungsausstellung für unsere gerade renovierte Bibliothek in Hongkong ist. Sie findet in einem Galerieraum direkt in der Bibliothek statt und reflektiert unseren Blick auf Archiv und Bibliothek als soziale Orte, an denen Menschen zusammenkommen, miteinander reden und Wissen austauschen. Statt ein statisches Archiv aufzubauen, das darauf wartet, entdeckt zu werden, organisieren wir aktiv Ausstellungen, Vorträge, Workshops rund um unsere Forschungsarbeit und über drängende Themen in der aktuellen Kunst in Asien.

ÖE

Wir entwickeln auch Forschungsprogramme. In den letzten beiden Jahren habe ich mich besonders über Life Lessons gefreut, eine Gesprächsreihe, die wir mit über 20 Künstler*innen organisiert haben, die an Universitäten unterrichten, Bildungsprogramme bei Kunstorganisationen aufbauen oder ihre eigenen Schulen leiten. Im letzten Gespräch der Reihe ging es um Schule als Interventionsform. Noor Abed und Lara Khaldi berichteten über die School of Intrusions und eine Peer-geleitete, mobile Lernplattform, die sie gemeinsam 2019 in Ramallah gründeten. Ahmet Öğüt sprach über die Silent University, die er 2012 als auf Solidarität aufbauende Plattform für den Wissensaustausch einrichtete und die von Vertriebenen und Geflüchteten betrieben wird. Diese von Künstler*innen geleiteten Para-Institutionen lassen uns hinterfragen, ob Kunstinstitutionen in der Lage sind, Themen der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung von Möglichkeiten und Privilegien, zu bearbeiten. Und nun folgen wir mit „The Collective School“ dem Vorbild Gudskuls und diskutieren, wie eine Schule für Kollektive unser Verständnis von Kunstpädagogikmodellen verändern kann, die sich oft auf individuelle Verbesserungen konzentrieren. Wie immer lernen wir dabei weiterhin von Künstler*innen.

Hier wäre es interessant, darüber zu sprechen, wie wir die Lern- und Partizipationsplattform von AAA entwickelt haben (L & P), denn das ist ein Modell, bei dem wir von Lehrer*innen und unterrichtenden Künstler*innen lernen.

SC

Das Archiv ist nicht nur ein Raum für akademische Forschung, sondern auch ein Katalysator für kreatives Forschen und Praktizieren. Als Ressourcenzentrum unterstützen wir Lehrende dabei, zu Vermittler*innen zu werden, Lehrstrategien zu entwickeln, mit denen wir Schüler*innen motivieren können, sich von Künstler*innen und den Materialien des AAA inspirieren zu lassen, um vielschichtige Arbeiten zu schaffen, seien es Kunstwerke oder Schriften.

L & P begann 2009, etwa zu der Zeit, als in Hongkong das Curriculum für den Kunstunterricht reformiert wurde. Die Reform verlangte von Schüler*innen und Studierenden, eine breit angelegte Perspektive von Kunst über die Jahrhunderte und Geografien hinweg zu entwickeln. Um den Schüler*innen und Studierenden dabei zu helfen, Kunst mit einem kritischen Blick in unterschiedlichen kulturellen Kontexten wertschätzen zu können, müssen Lehrkräfte sich Wissen über zeitgenössische Kunst aneignen, das ihnen während der Berufsausbildung nicht vermittelt wurde. Wir wollten auf dieses praktische und unmittelbare Bedürfnis reagieren. Als wir begannen, bot in Hongkong kein Museum und keine unabhängige Kunstorganisation eine derartige pädagogische Unterstützung an.

Wir haben in den vergangenen zehn Jahren mit unterschiedlichen Formaten, Methoden und Zielgruppen gearbeitet. In den ersten Jahren waren unsere Programme auf junge Menschen im Alter von 15 bis 25 Jahren ausgerichtet. Seit 2012 organisieren wir mehr Programme für Lehrende, um sie mit dem notwendigen Wissen über aktuelle Kunst auszustatten. 2017, als neue zeitgenössische Kunstorganisationen mit größeren Teams und Ressourcen die Hongkonger Szene betraten, traf AAA die strategische Entscheidung, sich stärker auf Lehrende zu konzentrieren, da sie auf lange Sicht mehr Schüler*innen und Studierende beeinflussen können.

Um Lehrende zu unterstützen, entwickeln wir Programme und Onlineressourcen, etwa die Teaching Labs, eine Reihe mit Vorträgen und von Künstler*innen geleiteten Workshops. Sie sollen den Lehrenden helfen, historische Zusammenhänge, künstlerische Praktiken und ihre derzeitigen Anforderungen in der Bildung zu diskutieren. Kürzlich eröffneten wir das Onlineprojekt Open Call: Artist Exercises, das lehrende Künstler und Kollektive aus Malaysia, den Philippinen, Indien, Singapur, Indonesien und der Chinatown in Boston zusammenbrachte, die kreative Übungen für ihre Lernenden entwickelten. Dabei wurden die Sammlungen des AAA mit dem jeweiligen lokalen Kontext und Lernumfeld verbunden. Die Teilnehmer*innen führen Übungen mit ihren Lerngruppen durch und stellen künstlerische Übungen als Ressourcen für Lehrende zusammen, die Lehrenden und Lernenden langfristig online zur Verfügung stehen werden.

Gudskul, Temu Wall, 2022, wall graphic for The Collective School, Asia Art Archive Library, 2022. Courtesy of Gudskul.
documenta fifteen: Asia Art Archive, installation view, Fridericianum, Kassel, 2022. Photo: Frank Sperling.
Teachers participating in Teaching Labs | Unfolding Possibilities: The ‘Art Life’ of Frog King, 2018. Photo: Asia Art Archive.
ÖE

AAA arbeitet zurzeit mit Lehrkräften aus mehr als 250 lokalen Schulen in Hongkong zusammen, die ihre Schüler*innen in die AAA-Bücherei bringen, damit sie mithilfe unserer Materialien etwas über die zeitgenössische Kunst erfahren. Das ist eine passende Stelle, um etwas über unsere Communitys zu sagen. Hongkong ist unser Standort, und unsere unmittelbarsten Communitys – Künstler*innen, Lehrer*innen und Forscher*innen – befinden sich ebenfalls hier. Doch wir schon von Anfang an an der Schaffung einer Ressource für Gegenwartskunst für Asien interessiert und möchten zwischen unterschiedlichen Kunstszenen Verbindungen herstellen.

2004 schrieb der Kunstkritiker Lee Weng Choy darüber, was „Asien“ bedeuten könnte. Er sagte, dass „asiatisch“ als Adjektiv oft „etwas charakterisiert, was in seinem Wesen asiatisch ist“ und „Asien“ einen „komplexen, umstrittenen und konstruierten Ort“ beschreibt. Darauf beziehen wir uns mit unserem Namen – Asia Art Archive. Als Team sind wir daran interessiert, nach Narrativen zu suchen, die über den Nationalstaat hinausgehen, nach Künstler*innen, die reisen und etwas zu unterschiedlichen Kunstszenen in der Region beitragen, nach gemeinsamen oder auch abweichenden Wegen, um damit zu einer „großzügigeren Kunstgeschichte“ beizutragen, wie es unsere Mitgründerin und ehemalige Direktorin Claire Hsu formuliert. Darum arbeiten wir weiter mit Künstler*innen, Lehrenden und Forschenden sowie mit gleichgesinnten Organisationen in einer größeren Region zusammen. Die Mobile Library: Nepal ist ein großartiges Beispiel dafür.

SC

Genau. Die Mobile Library ist eine Initiative, die wir 2011 an den Start gebracht haben. Sie will Universitäten und unabhängigen Kunstinitiativen grundlegende Unterstützung dabei geben, eine mobile Bibliothek mit Bildungsprogrammen zu gründen.

Indem wir auf frühere Ausgaben der Bibliothek in Vietnam, Sri Lanka und Myanmar aufbauten, haben wir kürzlich mit der Siddhartha Arts Foundation an der mobilen Bibliothek Nepal zusammengearbeitet, um Lesematerialien für Künstler*innen, Studierende und Lehrkräfte bereitzustellen. Die Bibliothek wurde mit modularen Regalen ausgestattet, mit denen das Projekt an unterschiedliche Veranstaltungsorte von Universitäten bis zu unabhängigen Kunsträumen angepasst werden kann. Sie wurde zu einem sozialen Ort für Gespräche, Pop-up-Ausstellungen, Workshops, Forschung und Lernen. Wir entwickelten auch ein Fellowship-Programm, bei dem sieben Kunstlehrende am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn ein Jahr lang zusammenarbeiten, um die Materialien in der Bibliothek durch eine Reihe von Aktivitäten mit Künstler*innen in der Stadt sowie durch von Jugendlichen geführte Workshops für Gleichaltrige zu nutzen.

Während die Bibliothek dank der Menschen, die sich um sie kümmern, an einzigartigen Orten und Infrastrukturen in Kathmandu stand, konnte ein Austausch mit anderen Bibliotheken und Archiven vor Ort sowie in Asien allgemein angestoßen werden. Wir möchten das in den kommenden Jahren weiter ausbauen. Es war ermutigend zu erleben, wie die regionalen Communitys die Herausforderungen der Gegenwartskunst gemeinsam angingen. Wir hoffen, dieses Netzwerk des Wissensaustauschs und der Zusammenarbeit weiter auszubauen.

Asia Art Archive (AAA)
ist eine unabhängige gemeinnützige Organisation, die im Jahr 2000 gegründet wurde. Anlass dafür war die dringende Notwendigkeit, die vielfältigen jüngeren Kunstgeschichten in der Region zu dokumentieren und zugänglich zu machen. Mit einer wertvollen Sammlung von Materialien zur Kunst, die auf der Webseite und in der Bibliotheksniederlassung in Hongkong kostenfrei zur Verfügung steht, baut das AAA Tools und Communitys auf, um das Wissen gemeinsam durch Forschung, eingeladene Künstler*innen und Bildungsprogramme zu erweitern. Ein Teil der Bemühungen von AAA besteht darin, eine Community zu gründen, die die Debatte über Kunst bereichern und als wichtige Ressource und Katalysator für Forschungen in diesem Bereich funktionieren kann. AAA organisiert Ausstellungen, Vorträge, Workshops, Veröffentlichungen, Konferenzen, Symposia und Forschungsstipendien für und mit Kunstfachleuten, Pädagog*innen, Akademiker*innen, Künstler*innen und der interessierten Öffentlichkeit. Großzügigkeit ist der Kern der AAA-Aktivitäten – der Wunsch zu sehen, wie Arbeit großzügig, ethisch und nachhaltig geteilt wird und so vielen Menschen wie möglich nutzt.