Issue number: 1
02 December 2022
Lesezeit: 16′
JJ Adibrata, farid rakun (Gudskul); Katja Klaus, Philipp Sack (Bauhaus Dessau Foundation)
Eine Warnung vorab: Kollektiv über den Titel dieser zu sprechen, muss scheitern, denn das wäre anfällig für unterschiedlichste Missverständnisse, Reibungen, Streitigkeiten. Jeder davon betroffene Diskussionsteil muss interpretiert und verhandelt werden: Was meinen wir, wenn wir „Dekolonisierung“, „Design“ und „Bildung“ sagen? Es ist auch nicht klar, was wir meinen, wenn wir von „wir“ sprechen. Lassen Sie uns also damit anfangen. Das fragmentierte Subjekt, das versucht, diesen Begriffen einen Sinn zu verleihen, besteht aus vier Personen, die mit zwei sehr unterschiedlichen Kulturinstitutionen in sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten verbunden sind: Gudskul (G) und die Akademie der Stiftung Bauhaus Dessau (B). Was hier folgt, ist ein Versuch, die Unterschiede, die sich aus diesen verschiedenen Institutionen in den Sichtweisen ergeben, zu erfassen und sie produktiv zu nutzen, statt sie im Dienst einer vermeintlichen Universalität anzugleichen: Daraus ergibt sich eine Montage aus Fragmenten, die gemeinsam im Zeitraum von zwei Wochen am Beginn der Regenzeit/des Herbsts 2022 zu einem Onlinedokument zusammengestellt wurden.
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Gudskul, ein Raum für gemeinsames Lernen und ein zeitgenössisches Kunstökosystem in Jakarta, organisiert seit 2018 ein kollektives Studienprogramm. Das Programm wird als Plattform für einen Austausch verstanden, von der aus eine Stimmung verbreitet werden soll, die zu Initiativen und künstlerischen und kulturellen Unternehmungen in einer Gesellschaft , die sich dem Kollektivismus verschreibt. Gudskul ist zutiefst vom Teilen und Zusammenarbeiten als zwei wichtigen Elementen überzeugt, die zur Entwicklung von zeitgenössischer Kunst, Kultur und deren Ökosystemen beitragen. Die Kollektive, die an diesem Studienprogramm teilnehmen, kommen aus unterschiedlichen Kontexten, doch ihnen allen ist gemein, dass sie aus ehemaligen Kolonien stammen und erkennen, dass es an Infrastrukturen fehlt, die die Praxis und Entwicklung von Kunst und Design im Bereich Diskurs, Produktion, Präsentation, Wertschätzung, Bildung und Erhalt fördern. Die Praktiken, die diese Kunstorganisationen und Kollektive initiieren, sind ihr Weg, sich an der Entwicklung genau dieser Infrastrukturen zu beteiligen. Sie organisieren Kunstprojekte, mit denen sie in unterschiedlicher Weise einen Beitrag für die Gesellschaft leisten –  seien es Workshops, Gesprächsrunden, Diskussionen, Ausstellungen, Publikationen oder anderes mehr.

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Die Stiftung Bauhaus Dessau ist als solche kein Lernort. Sie hat die Aufgabe, das Erbe einer Schule zu pflegen. In der westeuropäischen Geschichte von Kultur, Design, Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts nimmt das Bauhaus eine besondere Rolle ein. Als eine der ersten Hochschulen für Gestaltung stand es vor der Frage, wie die Dynamik der Moderne mit den Mitteln des Designs erfasst werden konnte. Dabei war es in einer Zeit aktiv, in der die westlichen Industrienationen eine Krise durchlebten. Obwohl es zu dem historischen Zeitpunkt gegründet wurde, als Deutschland seine Macht über die Gebiete, die es kolonisiert hatte, an andere europäische Länder abtreten musste, profitierten das Bauhaus und die Menschen, die mit ihm in Verbindung standen, von der Fortsetzung der kolonialen Strukturen und förderten auch deren Weiterführung, sowohl in den 14 Jahren, in denen das Bauhaus bestand, als auch nach seiner Schließung 1933.

Als hybride Institution, die an der Schnittstelle von Architektur, Weltkulturerbe und Schule steht, strebt die Stiftung Bauhaus Dessau seit vielen Jahren danach, die eurozentrische Geschichte der Kunst- und Designausbildung mittels Forschung und Bildungsprogrammen seiner Akademie neu zu schreiben. Dabei konzentriert sie sich auf transkulturelle Dialoge und die globalen Verstrickungen der westlichen Moderne, wie sie sich beispielhaft in der Beziehung zwischen dem Bauhaus und Kala Bhavana im indischen Santiniketan sowie zwischen der Hochschule für Gestaltung (HfG) Ulm and the National Institute of Design in Ahmedabad, ebenfalls in Indien, zeigen.

DEKOLONISIERUNG DER DESIGNAUSBILDUNG: BLICK ZURÜCK, BLICK NACH INNEN

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Wie Regina Bittner in ihrem Vorwort schreibt, war es eine der wesentlichen Techniken kolonialer Herrschaft, den kolonisierten Gesellschaften das westliche Bildungssystem überzustülpen. Die Errichtung von Bildungsinstitutionen nach dem Vorbild europäischer Schulen und Universitäten in den Kolonien diente zwei Zwecken: Die Kolonialmächte zwangen den Kolonien speziell westliche Wissensformen auf, indem sie deren universelle Gültigkeit behaupteten und dabei die lokalen Epistemologien marginalisierten und diskreditierten. Darüber hinaus nutzten sie sie, um lokale Eliten zu schaffen, die bereit waren, sich der Kolonialherrschaft anzupassen und/oder sie im Austausch gegen ein begrenztes Maß an Macht und Privilegien durchzusetzen. Kunst- und Designschulen spielten bei diesem Projekt eine entscheidende Rolle, denn ihre Curricula tauschten die lokalen Traditionen kulturellen Ausdrucks gegen den westlichen Kanon der Herstellung und Repräsentation aus. Ziel war es, billige Arbeitskräfte für die Betriebe zu schulen, die Produkte für die Kolonialstaaten herstellten. Trotz dieser anfänglichen Zielsetzung wäre es zu kurz gefasst, Kunst- und Designschulen zu reinen Ausbeutungsinstrumenten zu erklären. Es waren genau diese Institutionen, die zu Brutstätten des antikolonialen Widerstands und zum Versuchsfeld für eine Gesellschaftsordnung in der Zeit nach der Unabhängigkeit wurden, als die Länder im globalen Süden sich von der Kolonialherrschaft befreiten. Darüber hinaus wurden sie zu Wegbereitern für die Entstehung einer postkolonialen Identität, denn sie trugen zu einer neuen Wertschätzung lokaler Handwerkstraditionen und Repräsentationsformen bei.

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Die lange Geschichte der Kolonisation führte zu einer Wertemischung, die aus dem Prozess von Imitation, Anpassung und Angleichung dessen resultiert, was aus dem Kolonialismus und dem Austausch von Information und Wissen absorbiert wurde, und die zu einer Erweiterung des Horizonts lokaler Traditionen führte, die in ihr weiterhin bestehen. Zu erkennen, dass bildende, soziale, künstlerische und kulturelle Systeme des kolonialen Erbes ein Ergebnis von Imitations- und Anpassungsprozessen sind, heißt zu erkennen, dass sie für die Visionen, Ideale und Vorstellungen in unseren heutigen Kontexten überflüssig geworden und nicht mehr relevant sind. Das westliche Bildungssystem mit seinen modernistischen Sichtweisen neigt dazu, alles aus dem Blickwinkel der Produktivität und Universalität zu betrachten, die sich an der kapitalistischen Entwicklung der Menschen orientieren. Betrachtet man den Kontext, in dem diese Initiativen wachsen, ist es offensichtlich, dass sie in der Mitte der Gesellschaft mit all ihren komplexen Problemen stehen.

Wie können wir uns mit den bestehenden kolonialen Strukturen mit ihren unscharfen Zeitlichkeiten und Territorialitäten auseinandersetzen und gleichzeitig unsere eigene Mitschuld an ihnen anerkennen?
B

Dass die kolonialen Bildungsinstitutionen sich überlebt haben, führt zu der Frage, was aus ihren Ruinen entstehen könnte. Wir erkunden daher die praktischen Schlussfolgerungen, die heutige westliche Kulturinstitutionen aus ihrer kolonialen Komplizenschaft ziehen müssen. Was bedeutet Dekolonisierung für die Ziele einer westlichen Welterbestätte, die daran gewöhnt ist, als relevant betrachtet zu werden? Wie befassen wir uns als eine Institution, die von westlicher Tradition und Privilegien durchzogen ist, mit den vielen und oft gegensätzlichen Geschichten des antikolonialen Kampfes, ihren aktuellen Auswirkungen und möglichen Zukünften? Wie können wir bestehende koloniale Strukturen mit ihren verschwommenen Temporalitäten und Territorien ansprechen und zugleich unsere Komplizenschaft mit ihnen anerkennen? Wie können wir mit den Mitteln, die uns in den Grenzen unserer Institution zur Verfügung stehen, einen sinnvollen Beitrag leisten, um diese Bedingungen zu unterwandern?

DEKOLONISIERUNG VON BILDUNGSKONZEPTEN: BLICK NACH VORN, BLICK NACH AUSSEN

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Eine Strategie in diesem Projekt ist es, uns aus dem Zentrum des Narrativs zu entfernen, das wir repräsentieren. Statt den Einfluss des Bauhauses als ein „Zentrum“ anzunehmen, das auf die nichteuropäische Peripherie ausstrahlt, finden wir es wichtig, die vielen Verbindungen zwischen den Kunst- und Designschulen überall auf der Welt und das gesamte 20. Jahrhundert hindurch anzuerkennen und den alternativen Entwicklungen in der Designausbildung Raum zu geben. Wir profitieren dabei von den vielfältigen Erfahrungen und Begegnungen aus vorherigen Projekten, etwa Schule Fundamental ein Festival der Kunst- und Designbildung, den verschiedenen Ausgaben des Forschungsprogramms Bauhaus Lab, einer Reihe von hybriden Konferenzen namens Bauhaus Study Rooms oder dem Programm für experimentelles Lehren, den Open Studios. Diese Projekte beruhen im Wesentlichen darauf, dass wir einladen und zuhören und die Kunst- und Designpädagogik von den modernistischen Traditionen loslösen. Wir haben kontinuierliche, gegenseitige Lernprozesse mit einer großen Bandbreite von Teilnehmenden in Gang gesetzt und so das historische Narrativ für alternative Modelle geöffnet, um eine gemeinsame Wirkung zu erzielen. Aus dieser Praxis ist auch die Zusammenarbeit mit Gudskul entstanden. Seit 2019 stehen die Stiftung Bauhaus Dessau und Gudskul in einem ständigen Dialog, der verschiedene Bildungsformate und -begegnungen umfasst, manchmal persönlich, oft auch online. Sich gegenseitig sehr unterschiedlichen Ansätzen auszusetzen, machte schließlich der Erkenntnis Platz, dass anstelle eines gemeinsamen Bezugskonvoluts im akademischen, dekolonialen Diskurs ein festes Bekenntnis zur Zusammenarbeit eine Möglichkeit bietet, das koloniale Erbe zu untergraben. Es geht nicht nur darum, die richtigen Fragen zu stellen und angemessene Schlussfolgerungen zu ziehen. Indem wir uns dem Prinzip der Zusammenarbeit verpflichten, hoffen wir, zwei große epistemische Risiken zu umschiffen, nämlich einerseits die Gefahr, dieses Projekt in eine narzisstische Selbstbeschau zu verwandeln, indem wir uns nur darauf konzentrieren, unsere Privilegien zu kritisieren, und andererseits den dekolonialen Diskurs zu exotisieren, indem wir bewusst gar nicht in eine Diskussion eintreten.

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Diese Berührungspunkte, die durch das fortlaufende Engagement des Bauhauses Dessau und von Gudskul möglich wurden, stehen für den Versuch, Geschichten aus etablierten Historien und bodenständige Praktiken auf einem gemeinsamen Boden zusammenzubringen, auf dem sich Theorien und Geschichten treffen. Damit entstehen Räume, in denen die Dekolonisierung nicht nur repräsentiert oder über sie gesprochen wird, sondern gleich mit ihren unordentlichen, unperfekten Realitäten geprobt wird. Lernen besteht daher nicht nur aus kognitivem, sondern auch aus körperlichem Handeln. Verständnis wird nicht nur in den Köpfen der Akteur*innen, sondern auch in ihren Herzen erreicht. Das Ergebnis ist daher durchlässig, multidirektional und fortlaufend.

INNEN UND AUSSEN VERSCHWIMMEN LASSEN

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Kommen wir zur Ausgangsfrage zurück: Werden wir jemals ganz klare Definitionen für die drei Begriffe finden, die im Titel dieser Ausgabe vorkommen? Wahrscheinlich nicht. Wird dieses Journal eine Vielzahl von flüchtigen, konkurrierenden und manchmal nicht vergleichbaren Sichtweisen auf die Bedeutung von Dekolonisierung, Design und Bildung vermitteln? Das hoffen wir. Das Spektrum der Beiträge, die wir ausgewählt haben, reflektiert die unterschiedlichen Umsetzungswege, die Gudskul und die Stiftung Bauhaus Dessau verfolgen. Der Bauhausteil, den das Bauhaus in Auftrag gegeben hat, besteht aus zwei historischen Fallstudien über Schulen, die aus den Dekolonisierungsbemühungen entstanden sind, und einem Gespräch über die Diskurse über Dekolonisierung, wie sie im Bereich Designstudien in und jenseits akademischer Einrichtungen in den früheren Metropolen der politischen Kolonialgeografie geführt werden. Diese Beiträge sind mit tief gehenden Berichten und Reflexionen über Bildungspraktiken in früheren Kolonialgebieten verwoben, die auf Einladung von Gudskul von zehn Kollektiven in Süd- und Zentralasien sowie in Afrika erstellt wurden. Indem die Versuche jedes dieser Kollektive vorgestellt werden, lokale Formen des Sehens und Handelns sowohl in der bestehenden institutionellen Landschaft als auch über sie hinaus zu aktivieren, werden diese Beiträge zur theoretischen und historischen Erkundung des Empirismus und eröffnen wertvolle Einsichten in die Taktiken und Strategien, die im Kampf um die Dekolonisierung zum Einsatz kommen. Darüber hinaus wird die Frage gestellt, wie (oder vielmehr: ob) es einen Bezug zu den Richtwerten des dekolonialen Diskurses gibt.

Diese Begegnungen, die durch die kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen dem Bauhaus Dessau und Gudskul ermöglicht wurden, stellen Versuche dar, Geschichten aus der etablierten Geschichte und Praktiken vor Ort gleichberechtigt zusammenzuführen - wenn Theorien auf Geschichten treffen.

In ihrem Essay über die Fallstudien, die für die Konferenz „Design for Development“ eingereicht wurden, die 1979 die Organisation für industrielle Entwicklung der Vereinten Nationen und der International Council of Societies of Industrial Design in Ahmedabad und Bombay (heute Mumbai) veranstaltete, untersucht Suchitra Balasubrahmanyan, wie Designdiskurse und -praktiken im unabhängig gewordenen Indien vor allem von Ideen lebten, die sich um die Vorstellung von Modernisierung drehten. Der Wunsch, Kunst- und Designschulen im kolonialen Kampf in Mittel der Veränderung zu verwandeln, findet sein Echo in Ola Udukus Beitrag über das Dakawa Development Centre, eine Siedlung in Tansania, die in den frühen 1980er-Jahren erbaut wurde, um exilierten Mitgliedern des südafrikanischen African National Congress Wohnungen und Ausbildungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Ihr Artikel zeigt das Netz politischer Allianzen und Solidaritätsbewegungen, die an Planung, Bau und Betrieb des Camps beteiligt waren, und erkundet sowohl die Potenziale als auch die Fallstricke dieses Wagnisses eines utopischen Placemakings. Die epistemologischen Folgen eines solchen dekolonialen Unternehmens, die in den historischen Studien und den Berichten der Kollektive präsentiert werden, sind Thema eines Gesprächs, das Regina Bittner mit Pedro Oliveira und Nina Paim führten.

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Mit bestimmten Experimenten, die sich von der Realität, spezifischen Kontexten und Orten um sie herum abheben, gestalten die Organisationen und Kunstkollektive, die eingeladen waren, ihre Einsichten mit uns zu teilen, verschiedene Methoden und Modelle, die die passendsten Reaktionen auf die bestehenden Erfordernisse hervorrufen. Oft sind diese Methoden und Modelle nicht ganz neu, aber sie bieten eine kreative Antwort auf das, was in der Gemeinschaft besteht und geschieht. Experimente mit diesen Methoden und Modellen verändern sich zu horizontalen Lernprozessen, wenn sie der Gemeinschaft zugänglich gemacht werden.

Diese Organisationen und Kunstkollektive sind gewachsen und wirken als Behältnis, das ständig das Bedürfnis, die Realitäten in der Gemeinschaft zu beobachten, verstehen und verhandeln, ihre Relevanz zu erkennen und auf ihre Anforderungen und Positionen im heutigen Kontext unterstützen kann. Sie werden zum Motor, zum Mittel, das sich der Gemeinschaft anpassen oder sich von ihr inspirieren lassen kann, und sie können die schnellen Veränderungen in der Gesellschaft verstehen und auf sie reagieren.

Aus der Innenperspektive wird der Raum der Kunstorganisationen oder -kollektive oft als ein Ort des Lernens und Experimentierens für seine Mitglieder betrachtet. Von den zahlreichen Gruppen und Künstler*innen, die solche Orte organisieren, kommen viele nicht aus künstlerischen, sondern aus allen möglichen anderen Bereichen. So wird aus dem Raum ein Hub, in dem künstlerische und nichtkünstlerische Ideen zusammenkommen. Das ist für uns wichtig, denn wir glauben daran, dass Kunst und Design aus unterschiedlichen Perspektiven und aus verschiedenen Kontexten betrachtet werden müssen. Bei ihrer Arbeit machen die Organisationen und Kollektive oft Vorschläge, die sich auf soziale Themen beziehen, und nutzen verschiedene Kunst- und Designansätze, um mit der Gemeinschaft zu interagieren, von ihr zu lernen und neue Ideen einzubringen, die sie auf der Grundlage dieser Interaktion entwickelt haben.

Die Kunst- und Designkenntnisse, die sie bis dahin erworben haben, sind das Ergebnis eines Lernprozesses, an den zu glauben sie gelernt haben und der aus dem Westen kommt. Daher ist das, was die Menschen prinzipiell für gut halten, in der Praxis eine Wahrnehmung, die aus Wissen entsteht, das aus dem Westen kommt. Wenn lokal verankerte Organisationen und Kunstkollektive ihre Praktiken umsetzen, erkennen sie eher, was im Einklang mit den lokalen Wahrnehmungen gut ist, und das liegt oft außerhalb dessen, was man im Allgemeinen für gültig hält. Mit lokalen Gemeinschaften zu arbeiten, öffnet viele Grenzen und geht über das hinaus, was bis dato als „Standard“ akzeptiert wurde. Es entstehen neue Arten des Lernens.

Die Räume, die Kunstorganisationen und -kollektive bereitstellen, sollen sichere Orte für Menschen und Ideen sein, in denen verschiedene Perspektiven zusammenkommen und zu einer neuen Idee werden, die dann ihre Funktion und Bedeutung findet. Es ist auch das Wesen dieser Orte, der Gemeinschaft offenzustehen. Die Menschen können kommen und voneinander lernen, ihre Ideen, Vorstellungen, Sensibilitäten, Werte, Visionen stärken und Dinge, die sie für wichtiges Wissen halten, definieren und verbreiten.

Die folgenden Beiträge der Kollektive entstanden nicht speziell für dieses Journal, sondern bilden ihre übliche Arbeit ab. Wir nutzen diese Gelegenheit für ein tieferes Verständnis von Zeit. Wir betrachten die Vergangenheit als etwas, worüber wir in der Gegenwart nachdenken, um uns vorstellen zu können, was als Nächstes kommt.

Ba-bau AIR, ein Kollektiv aus Hanoi, präsentiert und diskutiert den gemeinsamen Raum, den das Kollektiv anbietet. Indem es einen Raum einrichtet, experimentiert es mit den Möglichkeiten einer Umgebung für gegenseitiges Lernen, die hier als flüchtige Konstellation von Menschen und ihrer Art, Eigentum an einem Raum und seinen physischen wie spirituellen Eigenschaften zu erlangen, verstanden wird. Ba-bau AIR verlässt sich angemessenerweise auf ausdrücklich anekdotische Belege, wenn es demonstriert, dass selbst gemeinsames Nichtstun, das gemeinsame Bewohnen eines Raums, dazu dienen kann, unabsichtlich Lernprozesse in Gang zu bringen. Pangrok Sulap, ein Kollektiv aus Sabah, das Drucke herstellt, erkundet Möglichkeiten einer Zusammenarbeit, die radikal ist, sowohl in ihren politischen Forderungen als auch dem Gefühl, tief in den Gemeinschaften, mit denen das Kollektiv arbeitet, verwurzelt zu sein. Sein Beitrag wirft ein Licht auf die Methoden der Zusammenarbeit, die es einsetzt: Aktivitäten, die die Teilnahme diverser Gemeinschaften erlauben. Für die gemeinsamen Events nutzt das Kollektiv öffentliche und offene Räume. Der Name Salikhain Kolektib aus Manila zeugt von der Überzeugung des Kollektivs, dass Kunst eine Art von Forschung ist und dass Forschung ihrerseits ein kreativer Prozess ist. Salikhain leitet sich von den philippinischen Worten sali (teilnehmen), saliksik (erforschen), likha (erschaffen) und malikhain (kreativ) her. Das Salikhain Kolektib berichtet und reflektiert über verschiedene Programme, die die lokalen Gemeinschaften einbeziehen, lokales Wissen in einem größeren Zusammenhang einsetzen und partizipatorische Arbeiten in Kunst und Design erschaffen. Mit Methoden wie der partizipatorischen Kartenerstellung will das Kollektiv die koloniale Vorstellung von einem Ort dekonstruieren, die den Gemeinschaften, mit denen es arbeitet, aufgezwungen wurde. Die Einwohner*innen sollen ihre eigene Vor-Ort-Sichtweise auf kontroverse Regierungsentscheidungen entwickeln.

Wir nutzen diese Gelegenheit für ein tieferes Verständnis der Zeit. Wir betrachten die Vergangenheit als eine Sache, über die wir in der Gegenwart nachdenken müssen, um uns vorzustellen, was als Nächstes kommt.

BiSCA (Bishkek School of Contemporary Art) berichtet darüber, wie 2021 die Schule für Methoden der Kunstforschung und damit eine Plattform gegründet wurde, auf der Erfahrungen über Kunstpraxis und Methoden der Kunstforschung als Dekolonisierungsprozesse für Wissen und Denken ausgetauscht werden können. Aus diesem Blickwinkel schaut BiSCA auf einige Projekte zurück, die mit staatlichen Museen in Kirgisistan entstanden, und identifiziert diese Standorte als Träger eines schlummernden Potenzials für kulturelle Transformation, die enorme Möglichkeiten für die Entwicklung sozialer Beziehungen hätte. Der folgende Beitrag verschiebt den Fokus in eine andere Region: Another Roadmap Africa Cluster (ARAC) gehört zur Another Roadmap School, einem internationalen Netzwerk aus Praktiker*innen und Forscher*innen, die daran arbeiten, Kunsterziehung als engagierte Praxis in Museen, Kulturinstitutionen, Bildungszentren und Basisorganisationen in 22 Städten auf vier Kontinenten zu etablieren. Das Netzwerk entwickelt Methoden als Instrumente, mit denen sich alte Theorien neu betrachten und hinterfragen lassen, und begrüßt das Entstehen neuer Perspektiven in einem kollaborativen Prozess. Lineo Segoete von der ARAC-Arbeitsgruppe Maseru, erläutert die praktischen Fragen einer panafrikanischen Kooperation. Sie fragt: „Was, wenn die Geister unserer problembeladenen Vergangenheit keinen Ruheort haben?“ Sie denkt darüber nach, wie die gemeinsamen Beobachtungen und Betrachtungen der kolonialen Infrastrukturen, die die Bedingungen für ARAC vorgeben, die theoretische Arbeit prägen. Das Kollektiv UnconditionalDesign aus Jakarta organisiert eine Onlineplattform, die bedingungslose Interventionen an Konsumgütern aus Massenproduktion als Studie informeller Designpraktiken und Straßeninnovationen überall in Indonesien dokumentiert und archiviert. Diese Methode der partizipatorischen Dokumentation und Archivierung über Instagram ist sehr erfolgreich. In den vergangenen fünf Jahren konnten Hunderte Fallbeispiele aus allen Teilen des Archipels gesammelt werden. UnconditionalDesign nutzte seinen Beitrag, um eine Bilanz der Archivierungsarbeit und der Designforschungsworkshops zu ziehen, die das Kollektiv bisher durchgeführt hat. UnconditionalDesign schlägt vor, das Projekt auszuweiten, um ähnliche Projekte in Südostasien oder weltweit zu finden und zu dokumentieren. Das Asia Art Archive in Hongkong ist ein hybrides Institut, das sich der Produktion und dem Austausch von Wissen widmet. Dadurch will es einen kritischen, künstlerischen Dialog in der Gesellschaft anregen. Das Asia Art Archive berichtet über mehrere Programme, die in den vergangenen Jahren in verschiedenen Regionen Asiens organisiert wurden. Darüber hinaus wird darüber gesprochen, wie das Konzept „Asien” als generalisierende Projektion, die aus dem Westen stammt, sich auf die Arbeit des Kollektivs auswirkt.

Load Na Dito, ein Kollektiv aus Manila, skizziert die erste Ausgabe von „Kabit at Sabit“, eine Ausstellung, die 2019 überall auf den Philippinen gezeigt wurde. Indem das Kollektiv die präkoloniale Tradition wieder aufgriff, Kunstwerke in der Zeit vor Parlamentswahlen öffentlich auszustellen, will es einen gemeinsamen Raum schaffen, um die Gesellschaft widerzuspiegeln und neu zu erfinden. Mit dem Plan, die Ausstellungen auch in Zukunft zu veranstalten, betrachten sie sie als Lernprozess, als eine alternative Form der Schule, die zu heilsamen Spannungen zwischen Versuch und Irrtum, Theorie und Praxis führt. In einer poetischen Mitteilung aus Bandung sinniert Omnikolektif über seine Tätigkeit, indem es sich zur bestehenden institutionellen Landschaft der Kunsterziehung positioniert (und sich von ihr distanziert), vor allem im Hinblick auf das dominierende und prestigeträchtige Institut Teknologi Bandung, das als eines der ältesten Institute höherer Bildung in Indonesien gilt und in den frühen 1920er-Jahren von den Niederländern eingerichtet wurde. In seinem Beitrag wird das Kollektiv von dem Historiker Changkyu Lee begleitet, der alternative Modelle der Kunstverbreitung erforscht und daher einen zusätzlichen Kontext zu etwas beisteuert, was eigentlich eine simple Geste ist: „Es mag heroisch geklungen haben, aber sie haben sich nie als Kämpfer gegen die Ungerechtigkeit betrachtet. Sie wollten einfach nur ein Zuhause schaffen, in dem die Leute nach einem langen Tag der Welteroberung zusammenkommen, Geschichten erzählen und nach Antworten auf alle Mysterien des Lebens suchen konnten.“ Serrum ist ein Kunstkollektiv aus Jakarta, das sich auf Bildung konzentriert. In seinem Beitrag fasst Serrum die Diskussion um PRESISI zusammen, eine kooperative Gruppe von Lehrenden, die Ideen zu kontextuellen Bildungspraktiken austauschen, die einen postkolonialen Kontext in Indonesien widerspiegeln. Im Rückblick auf das öffentlich finanzierte PRESISI-Programm beschäftigen sie sich mit der Frage, ob koloniale Kontinuitäten bei Institutionen zwangsläufig dieselben Kontinuitäten bei Methoden und Epistemologien in der Kunst- und Designbildung nach sich ziehen oder ob sie unterwandert werden können (und wie).

Diese Ernten sind Gelegenheiten, großzügig zu sein, indem man teilt und darauf vertraut, dass die Samen in anderen gepflanzt werden können.

Diese Ausgabe befasst sich nicht nur mit dem kolonialen Erbe (ein Thema), sondern will auch einen neuen Ansatz in die Praxis umsetzen: Kollektivität, ein Modell, das Gudskul stets bevorzugt, mit dem es experimentiert und an das es glaubt (eine Methode). Was die Leser*innen erleben, ist demnach ein Schnappschuss oder ein Querschnitt dieser andauernden Reise, auf der das Bauhaus Dessau als Slicer dient – als aktiver Mitstreiter, der an der Bekanntmachung dieser Wanderschaft mithilft. Die kollektive Reise führt an vielen Kreuzungen vorbei, an denen die Wege in unterschiedliche Richtungen führen. Die öffentlichen Gelegenheiten, bei denen wir etwas „produzieren“, das „geerntet“ werden kann, um andere und uns zu „nähren“, können als „Ernte“ betrachtet werden. Diese Ernten gibt es in unterschiedlichen Formaten: als Fridskul (Fridericianum als Schule) auf der documenta 15, einer großen Ausstellung zeitgenössischer Kunst in Kassel (an der die meisten Kollektive und Initiativen beteiligt waren), als eine Ausgabe eines E-Journals wie dieses hier, das eine Reflexion der Vergangenheit ermöglicht, um die Position in der Zukunft zu definieren. Die kollektive Reise hat ein Eigenleben. Ist es stark, kann sie sich von den individuellen und Gruppenaktionen, die sie gestalten, lösen. Diese Ernten sind Gelegenheiten, bei denen man großzügig sein kann, indem man teilt und darauf vertraut, dass die Saat in andere gepflanzt werden kann.

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Wir tun dies in einem Moment, in dem postkoloniale Theorien und Praktiken mit einem, wie Walter Benjamin es formulierte, „Augenblick der Gefahr“ (Über den Begriff der Geschichte, These IV) konfrontiert sind. Die Gemeinschaften in postkolonialen Gesellschaften stehen nicht nur vor der Herausforderung, ein kollektives Selbstsein im Kontext eines globalen Spätkapitalismus im permanenten Krisenmodus zu organisieren, nachdem die utopischen Rufe nach einer nationalen Befreiung verklungen sind. Besonders in Deutschland werden darüber hinaus das emanzipatorische Potenzial der postkolonialen Theorie und die Legitimität der Stimmen aus dem globalen Süden in jüngster Zeit von reaktionären Kräften infrage gestellt.

JJ Adibrata, farid rakun (Gudskul); Katja Klaus, Philipp Sack (Bauhaus Dessau Foundation)
Gudskul ist eine Plattform zum Austausch von Wissen, die 2018 von den drei in Jakarta ansässigen Kollektiven ruangrupa, Serrum und Grafis Huru Hara gegründet wurde. Gudskul glaubt aufrichtig an den Austausch und die Zusammenarbeit als zwei wesentliche Elemente bei der Entwicklung der zeitgenössischen indonesischen Kunst und Kultur. Ihr Ziel ist es, den Geist der Initiative durch künstlerische und kulturelle Bemühungen in einer Gesellschaft zu verbreiten, die sich dem Kollektivismus verschrieben hat, und Initiatoren zu fördern, die den lokalen Bedürfnissen höchste Priorität einräumen, während sie gleichzeitig auf internationaler Ebene einen Beitrag leisten und eine wichtige Rolle spielen. Gudskul ist dabei, ein Ökosystem aufzubauen, in dem viele Teilnehmer zusammenarbeiten. Diese Vielfalt trägt zur Diversifizierung der Themen und Akteure bei, die an jedem Kooperationsprojekt beteiligt sind, das in einem sozialen, politischen, kulturellen, wirtschaftlichen, ökologischen und pädagogischen Kontext stattfindet. Gudskul ist offen für alle, die sich für gemeinsames Lernen, die Entwicklung kollektiver künstlerischer Praktiken und Kunstschaffen mit dem Schwerpunkt auf Zusammenarbeit interessieren.