Lernen statt Schule
Warum steht das Design vor der besonderen Herausforderung, seine Epistemologien, seine Methoden der Wissensproduktion, seine Logik und Historiografien zu hinterfragen? Wie kann Design von seiner Verstrickung mit westlichen Vorstellungen von Universalität befreit werden? Wie können wir die Wirkmächtigkeit von Design über die westlichen Lösungen und anthropozentrischen Modelle hinaus neu denken? Welche alternativen Emanzipationsansätze werden in der Praxis und in Diskursen über die Dekolonisierung des Designwissens und der Designbildung angesprochen?
Diese vier Fragen begegneten mir an einem regnerischen Nachmittag, und ich ließ sie in mich hineinströmen. Je mehr ich über sie nachdachte, desto gelähmter, verstummter fühlte ich mich. Wie kann man ein derart komplexes Thema mit einer so geringen Zahl an Anschlägen und Wörtern angehen? Obwohl die Liste mit der Frage nach dem „Warum“ beginnt, die zunächst auf die Problemstellung abzielt, bewegt sie sich schnell weiter zu den problemlösungsorientierten Fragen nach dem „Wie“ und „Was“. Wenn ich diese vier Fragen zu einer zusammenfasse, könnte sie so lauten: „Wenn wir anerkennen, dass Design zutiefst problematisch ist, wie können wir das akzeptieren und anfangen, seine Gefahren zu beseitigen?“
Unsere Welt steckt zutiefst in Schwierigkeiten, und das Design hat seinen grundlegenden Anteil daran. Das trifft zu, ganz gleich, ob wir Design als eigenständige Disziplin betrachten, als ein akademisches oder berufliches Feld oder ob wir bei Design im weiteren Sinn eher an alles denken, was Menschen tun und was uns dann wiederum formt (designt). Als Disziplin ist Design nicht neutral. Es entstand an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, nämlich im Europa des 19. Jahrhunderts, mitten in der industriellen Revolution, und als Domäne elitärer weißer Männer. Aus diesen Ursprüngen hat sich der Bereich untrennbar mit der westlichen, kapitalistischen und kolonialen heteropatriarchalen Moderne verstrickt und dient dazu, diese unterschiedlichen Unterdrückungssysteme zu wiederholen, zu verstärken und zu replizieren. Und selbst wenn wir Design in einem größeren Rahmen betrachten, kommen wir zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Unsere Welt ist nicht „von Natur aus“ ungerecht und ungleich. Ungerechtigkeiten werden durch Design, von den Mächtigen, von den Unterdrückern erzeugt. Wie können wir also anfangen, sie zu beseitigen? Ich zögere, wenn ich auf die Frage antworten soll, denn ich kann nur auf meine eigenen Erfahrungen zurückgreifen, die unvollständig und nicht perfekt sind. Was nun folgt, mag wie eine Übung in Selbstentblößung erscheinen. Tatsächlich aber handelt es sich um einen Versuch, auf meinen Körper zu hören, mein Herz und meinen Verstand und meine Wahrheit zu sagen.
Design stand bei meiner Berufswahl nicht an erster Stelle. Bevor ich in diesem schwierigen Bereich ankam, studierte ich kurz Wirtschaft an der Päpstlichen Katholischen Universität Rio de Janeiro (PUC-Rio) in Brasilien, einer Privatuniversität, die sich in einem wohlhabenden Viertel der Stadt befindet. Ich verließ sie nicht, weil ich Wirtschaftswissenschaften per se nicht leiden konnte, sondern weil das Umfeld sexistisch, rassistisch, klassistisch und homophob war. Als queere Frau fühlte ich mich in meinem alltäglichen Leben an den Rand gedrängt. Das rührte nicht nur von den Curricula der Professor*innen her, sondern auch – und eigentlich ganz besonders – von den täglichen Interaktionen mit meinen Kommiliton*innen. Im Wesentlichen konnte ich sie mir nicht als meine zukünftigen Peers vorstellen. Ich glaube, einige von ihnen haben schließlich Stellen in Präsident Jair Bolsonaros rechtsgerichteter Regierung gefunden. Damals verließ ich die Universität, weil ich „meine Leute“ finden musste. Ich spreche über diese Erfahrung, weil ich auf zwei Dinge hinauswill: Erstens sind die Probleme, über die wir sprechen, nicht nur im Design zu finden – sie sind systemisch. Zweitens verändern die Gewalt und die Exklusionen, denen wir in den Räumen, die wir bewohnen, begegnen, oft den Lauf unseres Lebens. Am Ende ist es bei der Suche nach Freiheit von Leid am wichtigsten, Gemeinschaft zu finden.
Nach der PUC-Rio schrieb ich mich in den Designstudiengang der Hochschule für Industriedesign/Universität des Staates Rio de Janeiro (ESDI/UERJ) ein, einer öffentlichen Institution ohne Studiengebühren. 2003 war die UERJ die erste Universität in Brasilien, die Quoten für Studierende aus armen Familien und mit einem Abschluss von einer staatlichen Schule sowie für Studierende einführte, die sich selbst als schwarz, braun oder indigen erklärten. Als ich drei Jahre später dort ankam, waren die Richtlinien bereits etabliert, und die einst äußerst elitäre Einrichtung hatte – wenn auch langsam – begonnen, sich zu verändern. Es gab noch immer hegemoniale, unterdrückerische Strukturen, wenn sie auch auf institutioneller Ebene deutlich ausgeprägter waren als in meinem täglichen Umgang mit meinen Kommiliton*innen, der, das muss ich erwähnen, immer noch konfliktgeladen war. Ein Schnappschuss von meinen Mitstudierenden, die vor einer der grauen Wände des Universitätsgebäudes stehen, zeigt einen unangepassten Haufen. Wenn wir trotzig durch die Straßen von Rio de Janeiro zogen, wurden wir oft mit strafenden Blicken bedacht. Mit meinen Kommiliton*innen, die oft aus sozialen Schichten kamen, die sich sehr von meiner angenehmen Mittelklasseherkunft unterschieden, begann ich, mich politisch zu organisieren. Dabei war mir nicht bewusst, wie das später mein Leben beeinflussen würde.
Damals bot das ESDI ein fünfjähriges allgemeines Programm an, das Design als eine allumfassende, Probleme lösende Disziplin darstellte (bemerkenswerterweise wurde das Curriculum seither reformiert). Als zukünftige Designer*innen lehrte man uns, dass wir Dinge in allen Größen und Stufen der Komplexität gestalten konnten. Von Zügen bis zu Kaffeetassen, Piktogrammen bis zu politischen Kampagnen – uns omnipotenten zukünftigen Designer*innen schien alles erlaubt zu sein. Aber es fehlte eine Verbindung zwischen dem, was wir in unseren Seminaren lernten, und der zutiefst ungleichen brasilianischen Realität, die ständig durch die Risse der Schulfassade sickerte oder manchmal sogar strömte. Das Curriculum war wie eine Dampfwalze: Auf lange Tage folgten lange Nächte, und dazwischen lagen erschöpfende Nachmittage voller anstrengender körperlicher Arbeit in den Werkstätten der Schule. Als Designer*innen in der Ausbildung mussten wir „geformt“ werden, was bedeutete, dass wir uns anpassen mussten, um dazuzugehören. Wir waren nachgiebige Materialien, die geformt werden sollten, und das hieß, dass wir zunächst gebrochen und dann neu gestaltet werden mussten. Das war mental, körperlich, intellektuell und spirituell anstrengend. Ich erinnere mich daran, dass ich einmal einen Harzblock mit unter die Dusche nahm, damit ich ihn dort sogfältig weiterschleifen konnte, während ich meinen körperlichen Bedürfnissen nachkam. Meine eigenen Tränen vermischten sich mit dem Cocktail aus Wasser und Schleifstaub, um dann im Abfluss zu verschwinden.
Leonardo Vasconcellos, ebenfalls ein Absolvent der ESDI, der die Designhochschule besuchte, kurz nachdem ich sie verlassen hatte, beschreibt die Erfahrung des „Gebrochenwerdens“ an der Hochschule in einem kürzlich verfassten Text, der auf Futuress erschien, der feministischen Plattform für „Designpolitik“, die ich mitgegründet habe und zu deren Leitungsteam ich jetzt gehöre. Den Begriff hat der Designforscher Mahmoud Keshavarz geprägt. Er versucht, das integrale Band zwischen diesen beiden zutiefst ineinander verwobenen Bereichen sichtbar zu machen: Design und Politik. In seinem Text beschreibt Leonardo den herzzerreißenden Prozess, von der Designpädagogik zerschlagen und dekonstruiert zu werden, und wie er nach Alternativen suchen musste, um sich außerhalb der Schule wieder aufzubauen. Ganz ähnlich wie er war auch ich mir nicht bewusst, wie mir mithilfe des Designcurriculums immer wieder die stillschweigend dazugehörende Politik unter die Haut geschoben wurde. Später musste ich mich damit auseinandersetzen und einen schmerzlichen Prozess des Verlernens durchlaufen – aber darüber später mehr.
Natürlich hat weder meine Generation noch die von Leonardo irgendetwas davon passiv hingenommen. Beim Mittagessen, in Kaffeepausen und wenn wir uns beim Gang über den Korridor unterhielten, entstanden Freundschaften, in denen wir uns andere Möglichkeiten für die Schule und für das Design vorstellten. Ich gehörte zu einer Studierendengruppe, die an der Schule eine akademische nach Carmen Portinho benannte Gewerkschaft gründete, eine feministische Aktivistin und die erste Frau in Brasilien, die den Titel „Stadtplanerin“ erhielt. Ich war auch Studierendenvertreterin und half dabei, Umfragen zu einigen institutionellen Problemen zu organisieren, mit denen wir zu tun hatten. Unter anderem sammelten wir Hunderte Beschwerden über Belästigungen und Missbrauch durch Lehrkräfte und machten öffentlich bekannt, dass innerhalb der Universität Hunderte Bücher aus der Bibliothek gestohlen worden waren. Wir taten uns zusammen, um Workshops zu veranstalten, kuratierten gemeinsam Ausstellungen, planten im Team Partys und brachten gemeinsam Publikationen heraus, oft in Zusammenarbeit mit Lehrenden, die zu unseren Verbündeten wurden. Mein erstes kuratorisches Experiment, das ich gemeinsam mit zwei Kommiliton*innen organisierte, war eine Vortragsreihe mit dem Titel „Design hinter dem Spiegel“. Eine ganze Woche lang luden wir Designer*innen und Nichtdesigner*innen ebenso wie Anthropolog*innen, Musiker*innen, Philosoph*innen und Filmemacher*innen ein, Seite an Seite über ihre Unterschiede hinweg in einen Dialog zu treten.
Obwohl das der Grundstein meiner späteren Praxis werden sollte, geschah damals nichts davon geplant oder bewusst. Diese Experimente entstanden aus unseren individuellen und kollektiven Kämpfen und Wünschen. Als ich mein Abschlussjahr erreichte, war ich trotz der Narben und Schwielen an meinen Händen davon überzeugt, dass ich nicht richtig „geformt“ worden war. Daher entschloss ich mich, für ein Austauschsemester ins Ausland zu gehen. In den Niederlanden war weg von zu Hause und in einem viel individualistischeren Umfeld, aber mit Gleichaltrigen aus allen Ecken der Welt zusammen, die schnell zu engen Freund*innen wurden. Dort erkannte ich, wie sehr das Organisieren zur Grundlage meines Designverständnisses geworden war. Das ist etwas, was ich in der Hochschule lernte, aber vor allem trotz der Hochschule. Die Migration brachte auch neue Formen des „Andersseins“ und neuen Druck hervor, mich anzupassen. Darum suchte ich nach anderen, die in einer ähnlichen Lage waren. Obwohl ich mein Studium schließlich ganz nach Amsterdam verlegte, war mein Abschlussprojekt, das ich gemeinsam mit meiner alten brasilianischen Freundin Clara Meliande begann, ein Versuch, zwischen diesen beiden Welten Brücken zu bauen. Dabei entstand eine temporäre, gebührenfreie Designschule im Herzen von Rio de Janeiro, die mehr als 100 Teilnehmer*innen aus Brasilien und den Niederlanden zusammenbrachte.
Nach meinem Studienabschluss bewegte ich mich langsam vom Design zum Kuratieren und Herausgeben. Ich arbeitete mit verschiedenen Vermittlungsformaten wie Ausstellungen, Publikationen, Workshops und in jüngerer Zeit auch Texten. Ganz so, wie es Leonardo in seinem Text für Futuress beschreibt, begann ich, mein Bücherregal anzusehen und nach den Stimmen zu suchen, die nicht da waren. Ich erkannte, dass auch die Stille Bände sprechen kann. Plötzlich konnte ich eine Unzahl von brennenden Fragen hören, die schon immer da gewesen waren, erstickt zu gedämpften Echos und Hintergrundgeräuschen. Zuerst musste ich lernen, dem hämmernden Beat eines „Warum“ richtig zuzuhören, das tief in meinem Hals steckte, unterdrückt in meinem Körper, verhalten in meinen Händen – Stimmen, die tatsächlich verzweifelt darauf warteten zu sprechen. Dieses kritische Bewusstsein zu üben, ließ mich meine Referenzen, Vorlieben und Denkstrukturen hinterfragen. Repressive Systeme, die die westliche, kapitalistische und kolonial-heteropatriarchale Moderne am Leben erhalten und verstetigen, wirken strukturell und strukturierend, sie stecken in uns, in unserem Innern und überall um uns herum. Die Epistemologien, Methoden und Geschichten des Designs infrage zu stellen, wurde zu einem schmerzhaften Prozess des Verlernens, Entwirrens und Suchens nach neuen Bündnissen. Es ist ein Wandel, den ich immer noch durchlaufe, und das wird vermutlich für den Rest meines Lebens so bleiben.
Seit ich Brasilien eigentlich nur für ein halbes Jahr verlassen habe, sind zwölf Jahre vergangen. Seither habe ich viermal das Land gewechselt, und seit Januar 2022 finde ich mich wieder einmal in einem neuen Kontext wieder, in Portugal. Diese vielen Migrationen haben mich gezwungen, immer aufs Neue „meine Leute zu finden“. Das war nicht immer leicht und führte oft zu langen Zeiten der Einsamkeit. Aber diese Schwierigkeiten und dieser Kummer haben mir auch geholfen, andere kennenzulernen, mit denen ich denken und handeln kann. Ich kann gar nicht genug betonen, wie viel kritisches Bewusstsein oder „conscientização“, um einen Begriff des brasilianischen Philosophen Paulo Freire auszuleihen, nicht allein gewonnen werden kann. Es geht nicht um Selbstvervollkommnung oder Selbstverwirklichung, zwei Tendenzen, die im neoliberalen Design so vorherrschend sind, sondern um eine echte Transformation, die durch Dialoge über Differenzen hinweg möglich wird. Letztlich ist Befreiung nichts, was verliehen oder geschenkt werden kann, sondern etwas, was wir nur gemeinsam erreichen können, zusammen, als lebenslang Lehrende und Lernende, für immer unvollständig, ständig bereit, Fragen zu stellen, auf die wir vielleicht keine Antworten finden. Am Ende, manchmal, könnte die Antwort wie dieser kleine Text damit beginnen, dass wir die Bedingungen unserer Unterhaltung ganz neu definieren.