Issue number: 1
02 December 2022
Lesezeit: 8′
Serrum
PRESISI ist ein Programm, das auf einem Paradigma von Schüler*innen als unabhängige Individuen beruht, die eigenständig studieren. Das PRESISI-Programm zielt darauf ab, eine Auswahl von Lernmodellen bereitzustellen und baut auf einer Tradition des kritisch-analytischen Denkens auf, die den Schüler*innen den Umgang mit Phänomenen ermöglicht, denen sie in ihrer Lebenswelt begegnen.

Mit diesem Ziel schlägt PRESISI ein projektbasiertes, kontextuelles Lernmodell vor, eine Form des Lernens, die Schüler*innen und Lehrende in die Lage versetzt, direkte Interaktionen mit ihrem sozialen Umfeld sowie der Umwelt und ihren Bedingungen zu erleben. Am Ende dieses Prozesses werden die Schüler*innen das Ergebnis ihrer Studien und die Reflexion ihrer Erfahrungen in künstlerischen Arbeiten ausdrücken.

PRESISI wurde von drei Communitys ins Leben gerufen, die sich auf Pädagogik konzentrieren, nämlich Sanggar Anak Akar, Erudio Indonesia und Serrum-Gudskul, die zudem von der Generaldirektion für Kultur im Bildungs- und Kulturministerium Indonesiens unterstützt werden. Das Programm wurde 2020 in 100 Schulen in zehn Bezirken und Städten in verschiedenen Provinzen Indonesiens implementiert: Aceh, Klaten, Karanganyar, Makassar, Benoa, Kukar, Maumere, Ternate, Ambon und Jayapura.

Das unten stehende Transkript ist eine Zusammenfassung von Standpunkten, die bei der Fokusgruppen-Diskussion OPRES SESSION #3 über „Paradigmen und Praxis von PRESISI“ ausgetauscht wurden. Die Diskussion fand am 22. August 2022 in der Gudskul Hall statt.

Die Teilnehmer*innen der Fokusgruppen-Diskussion waren Andrea Aulia Rahmat, Angga Cipta, Angga Wijaya, Aurelia Jessica Febiola, Balqis Prameswari, Dhitta Puti Sarasvati, Diah Rahmawati, Farelia Octa Viola, Hairun Nisa, Ibe Karyanto, Kaminah, Karina Adistiana, Lestia Primayanti, Moch. Hasrul, M. Sigit Budi. S, Nadila Nindyta, Wacil Wahyudi, Wiratama und Yuli Setiawati.

PARADIGMEN UND PRAXIS VON PRESISI

 

Angga Wijaya:

PRESISI wurde in Bereichen mit besonderen Hintergründen implementiert, zum Beispiel in Schulen in Aceh oder im Osten Indonesiens, die sich in umkämpften Gebieten befinden. Letztere haben auch noch einen historischen Hintergrund als portugiesische Kolonie. Diese sozialen und historischen Bedingungen nehmen Einfluss auf die Dynamik der Bildung in jeder dieser Regionen.

Ibe Karyanto:

Die Kolonisierung muss im Kontext der Hegemonie verstanden werden, mit der das Bewusstsein durch die kulturellen Arbeiten der Kolonialist*innen kontrolliert wurde. Ki Hajar Dewantara, ein Kämpfer für die Unabhängigkeit, konnte nicht akzeptieren, dass es in diesem Land nur technische Ausbildungen gab, denn das hieß, dass diese Bildung, die aus dem Kolonialismus entstanden ist, nichts weiter als ein Lehrmodell war, mit dem die Bumiputera unterdrückt werden sollten. Sie sollten die kolonialen Bedürfnisse erfüllen, sowohl von einem technokratischen Standpunkt aus (Beherrschung der administrativen Techniken) als auch im Kontext der Herrschaftspolitik. Die Kultur, in die die Schüler*innen damals eingeführt wurden, leitete sich aus kolonialen Absichten her. Daher ist es ganz wesentlich, dass Schüler*innen die Freiheit haben, bestimmte Dinge auswählen zu dürfen und andere nicht tun zu müssen. Was die Freiheit der Auswahl angeht, können wir Schüler*innen mit dem PRESISI-Modelle ansprechen, und sie können die Bedeutung von Unabhängigkeit kennenlernen und verstehen, wie sie ihre Freiheit zum Lernen nutzen können. Aber von manchen Dingen frei zu sein, heißt, auch die schwerste Last zu tragen, denn das Gewicht, das die Schüler*innen tragen, besteht aus der Kraft ideologischer Absichten. Wenn wir die Schüler*innen davon befreien wollen, müssen wir gegen diese Kräfte angehen.

Karina Adistiana:

Das ultimative Ziel ist Souveränität, nicht nur persönliche Souveränität, sondern auch die des Staates über seine eigenen Ressourcen, über sein Wissen. Es gibt eine Menge Wissen, das nicht verbreitet wird, weil es als Störung des herrschenden Systems empfunden werden könnte. Ist Kolonialisierung zu irgendetwas gut? Natürlich ist sie das! Für bestimmte Gruppen, die an der Macht festhalten. Im Kolonialismus ist kein Platz für Demokratie. Obwohl wir von uns selbst behaupten, ein demokratisches Land, ein souveräner Staat zu sein, ist das nicht wahr. Wir spüren das nur in seiner jetzigen Form nicht, denn der Kolonialismus ist keine Bedrohung mehr, die von Waffen gestützt wird.

Ibe Karyanto:

Ich kenne keine Geschichte der Dekolonialisierung, die von einer Organisation durchgeführt worden wäre, die so stark ist wie der Staat. Dekolonisierung beruht auf den Menschen, die die Unterdrückung sehen, spüren und erleben. Wenn du eine Vision für eine Bewegung hast, die Veränderungen bewirken soll, gib nicht auf. Diese Dekolonialisierung wird nicht ablaufen wie die Kolonialisierung, die das Ergebnis eines starken und organisierten Machtsystems mit all seinem Kapital ist: Organisation, Massen, Geld und so weiter. Kolonialisierung in dieser neuen Form besteht und ist in unsere Curricula integriert. Wer hat das Wissen? Wer ist für das Wissen zuständig? Wer verfügt über die Macht, die Menschen im Bildungswesen auszusuchen? Wenn die Machthaber*innen starke Herrscher*innen sind, die besondere Interessen verfolgen, ist das ganz klar eine neue Form des Kolonialismus in der heutigen Zeit.

Schüler*innen in Aceh präsentieren ihr Projekt
Schulversammlung in Magelang, Indonesien
Schüler*innen in Maumere präsentieren ihr Projekt
Schüler*innen in Maumere auf einem lokalen Markt
Diagramm zum PRESISI-Projektablauf
Lestia Primayanti:

Bildung ist eine koloniale Form und ein sehr bequemer und romantischer Ort. Daher wurde es zunächst als Bedrohung und etwas Unangenehmes empfunden, als PRESISI als Paradigma oder Methode in formalen Schulen eingeführt wurde. PRESISI ist unangenehm, weil wir oft Freiheit anbieten, Freiheit von systematischem Druck, Freiheit, das Lernen zu entdecken; aber die Lehrer*innen empfinden das als Bedrohung. Sie denken, das sollte nicht so sein, oder sie wissen noch nicht einmal, dass sie das tun dürfen.

Ibe Karyanto:

PRESISI ist nicht nur ein Lernparadigma und -modell. Es ist eine Bewegung für den Wandel, es muss allein bestehen und sich tragen können. Dies ist ein Design, das für die Dekolonisierung der Bildung relevant ist, und nicht nur, bis das Projekt einmal abgeschlossen ist. Der Kolonialismus ist tief in einer sehr langen Geschichte verwurzelt. Die Regierung neigt– bewusst oder nicht – dazu, die Vorstellung von Bildung noch immer zu kolonisieren. Die Dekolonisierung der Bildung wird sich daher nur entwickeln, wenn die Menschen ein starkes Solidaritätsgefühl haben. Wenn wir relevantes Wissen in Übereinstimmung mit den sozialen Bedingungen herstellen wollen, die uns umgeben, müssen wir mit dem anfangen, was Schüler*innen über ihre gesellschaftlichen Bedingungen und den Kontext dieser Bedingungen denken. Sie müssen erkennen können, was für die Gemeinschaft von Belang sein kann, und einen Weg finden, um diesen Anliegen Ausdruck zu verleihen.

Wacil Wahyudi:

Das westliche Bildungsmodell kategorisiert die Dinge gerne. In Indonesien gibt es daher ausgezeichnete Schulen, beste Schulen, Lieblingsschulen und so weiter.

Ibe Karyanto:

Schulen bieten nur Wissen an, das für den Kapitalismus relevant ist, denn der soll verstetigt werden.

Wiratama:

Wir haben das Phänomen, dass Schulen als beste Schule oder Eliteschule bezeichnet werden, die nur bestimmte privilegierte Menschen besuchen können. Der Standard ist dem sehr ähnlich, der im kolonialen System herrschte, denn es gibt eine Kluft zwischen denen, die über diese Privilegien verfügen, und denen, denen die notwendigen finanziellen Mittel fehlen.

Hairun Nisa:

In der Grund-, Mittel und Oberschule folgte ich den Anweisungen der Lehrer*innen, lernte aus demselben Buch und nach denselben einheitlichen Lernmethoden. Die Lehrer*innen maßen die Intelligenz nur nach bestimmten Fähigkeiten, etwa exaktes Wissen. Alle Schüler*innen mussten ohne Ausnahme die Fächer verstehen und gute Noten bekommen, um es in die nächste Schule zu schaffen. Die Auswahl der Oberschule beruhte auf den wirtschaftlichen Möglichkeiten. Wenn du aus einer wirtschaftlich gut gestellten Familie kommst, kannst du die Oberschule besuchen. Wer sich das nicht leisten kann, muss sich eine preiswerte Berufsschule suchen oder ein pesantren, ein islamisches Internat, suchen und hoffen, dass man nach dessen Abschluss sofort einen Arbeitsplatz findet, um die Familie finanziell unterstützen zu können.

Dhitta Puti Sarasvati:

Schüler*innen, deren Hauptfach Mathematik ist, werden auf der Grundlage mathematischer Theorien unterrichtet. Natürlich kommen fast alle Theorien aus dem Westen. Die Frage ist: Was passiert, wenn man die Freiheit hat, alles Mögliche zu unterrichten? Können wir unser Wissen für einen höheren Zweck einsetzen, zum Beispiel eine gerechtere Welt? Wir können Zahlen und Brüche unterrichten, aber wenn wir zum Beispiel fragen: „Wie werden mathematische Gedankengänge in der Landwirtschaft benutzt?“, wird klar, dass wir die Antwort nicht unbedingt kennen.

Wacil Wahyudi:

Lehrende sind nicht mehr nur der Mittelpunkt der Lernressourcen, sondern auch Vermittler*innen, Mediator*innen und Mentor*innen. PRESISI begreift auch die Umgebung als Studienpartnerin. Daher gibt es keine Studierenden und Schüler*innen mehr, die als die Besten eingestuft werden. Auf dieser Grundlage stellt sich die Frage, wie Lernende ihr Potenzial und ihre Umgebung entwickeln können, damit die beiden zusammenwachsen können.

Karina Adistiana:

PRESISI will die Schüler*innen und Lehrenden dazu ermutigen, zu fragen und die Dinge zu hinterfragen, die nicht angemessen und nicht befreiend sind, zum Beispiel alles, was das Curriculum, die Verwaltung und anderes mehr betrifft.

Lestia Primayanti:

Lehrer*innen und Schüler*innen haben schließlich selbst herausgefunden: „Oh, das bedeutet also Freiheit!“ Sie haben sich damit nicht sofort wohlgefühlt, sie mussten sich der Freiheit erst annähern und sie nach und nach ausprobieren. Schulen, die diese Methoden seit zwei oder drei Jahren umsetzen, sind immer noch dabei, die wahre Unabhängigkeit zu erkunden und neue Systeme nach deren Relevanz für ihr Leben als Schulen in der Community zu gestalten.

 

Serrum
ist eine Kunst- und Bildungsstudiengruppe in Jakarta, die seit 2006 besteht. Das Wort Serrum steht für „Räume teilen“. Serrum konzentriert sich mittels Bildungs- und Kunstpräsentationsansätzen auf Bildungs- sowie soziopolitische und stadtplanerische Themen. Die Aktivitäten der Gruppe decken einen weiten Bereich von Aktivitäten ab, darunter Kunstprojekte, Ausstellungen, Workshops, kreative Diskussionen sowie Propaganda. Serrums Medien sind Videos, Wandbilder, Grafiken, Comics und Installationen.