Issue number: 1
29 November 2022
Lesezeit: 7′
Suchitra Balasubrahmanyan
Die Vorstellung von einer „Entwicklung“ beschäftigt Designer*innen in Indien schon seit der Einführung der Disziplin Design an Hochschulen in den 1960er-Jahren. In den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit spielte die indische Regierung im Leben ihrer Bürger*innen, deren Lebensstandard sich verbessern sollte, eine große Rolle. Aber wie wurde der Diskurs über das „Wohl“ der Nation durch die Brille der Designer*innen betrachtet? Oder, anders formuliert, wie setzten die Designer*innen diese Vorstellungen für sich und für die, die sie mit ihrer Arbeit beeinflussen wollten, in die Realität um?

Schon 1958 fragten die amerikanischen Designer Charles und Ray Eames in ihrem India Report: „Es gibt in Indien viele Diskussionen über den Lebensstandard. Inwieweit sind Snobismus und Überheblichkeit mit dem Lebensstandard verbunden? Wie viel Überheblichkeit kann sich eine junge Republik leisten? Was will Indien eigentlich? Was wünschen sich die Inder für sich selbst und für Indien?“[1] Was also wollten indische Designer*innen für die neue Republik?

 

Diese frühe Phase erinnert uns daran, dass diplomatische Erfordernisse im Kalten Krieg eine entscheidende Rolle dabei spielten, spezielle Vorstellungen von gutem Design nach Indien zu bringen. Der Besuch des Ehepaars Eames wurde von der Ford-Stiftung gesponsert, die auch die Tour der MoMA-Ausstellung „Design today in America and Europe“ (Design heute in Amerika und Europa) durch Indien finanzierte. Die Ausstellung bestand aus Möbeln und Konsumprodukten, die ausgewählt wurden, um die „Aufmerksamkeit der indischen Öffentlichkeit mithilfe von meist in großer Stückzahl industriell gefertigten Objekten auf die ästhetischen Werte des Westen zu lenken“ und um „indischen Industriellen und Handwerkern als Inspiration bei der Lösung der vielen neuen Probleme zu dienen, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen“.[2]

Die Stiftung unterstützte auch die Ausbildung der ersten Lehrenden am National Institute of Design (NID) in Europa, was dazu führte, dass die Lehrpläne und Pädagogikansätze des Bauhauses und der Designschulen in Basel und Ulm übernommen wurden, was sich auch im Industrial Design Centre (IDC) zeigte.

Veranstaltungsort der Konferenz „Design for Development“, 1979, Ahmedabad. Foto von Rajeev Manikoth, 1979. Mit freundlicher Genehmigung der Archive des National Institute of Design, Ahmedabad.
Auf der Ausstellung der Konferenz „Design for Development“ ausgestellte Produkte, 1979, Ahmedabad. Fotograf unbekannt, 1979. Mit freundlicher Genehmigung der Archive des National Institute of Design, Ahmedabad. Mit freundlicher Genehmigung der Archive des National Institute of Design, Ahmedabad.
Delegierte und Produktdisplay auf der Ausstellung der Konferenz „Design for Development“, 1979, Ahmedabad. Foto von P. D. Dabgar, 1979. Mit freundlicher Genehmigung der Archive des National Institute of Design, Ahmedabad.
Delegierte und Produktdisplay auf der Ausstellung der Konferenz „Design for Development“, 1979, Ahmedabad. Foto von P. D. Dabgar, 1979. Mit freundlicher Genehmigung der Archive des National Institute of Design, Ahmedabad. Courtesy: Archives, National Institute of Design, Ahmedabad.
Auf der Ausstellung der Konferenz „Design for Development“ ausgestellte Produkte, 1979, Ahmedabad. Fotograf unbekannt, 1979. Mit freundlicher Genehmigung der Archive des National Institute of Design, Ahmedabad.

Zwei Jahrzehnte später, bei der Konferenz „Design for Development“ (Design für Entwicklung) von UNIDO (Organisation für industrielle Entwicklung der Vereinten Nationen) und ICSID (Internationaler Rat der Vereinigungen der Industriedesigner*innen) in Ahmedabad und Bombay (heute Mumbai) 1979, wurden die Fragen der Eamses mit 13 bei der Veranstaltung präsentierten Fallstudien beantwortet. Die Entwürfe stammten vor allem von den Fakultätsangehörigen der beiden einladenden Institutionen, NID, Ahmedabad, und IDC, Bombay, und die Produkte reichten vom Fahrrad über landwirtschaftliche Geräte, Rollstuhl, Briefkasten, Schriftentwürfe für indische Sprachen, Elektrowerkzeuge und Sicherheitsausrüstungen für Bergleute bis zu Latrinen und handwerklichen Produkten.

 

Die professionelle Praxis am IDC und NID, die ihren beispielhaften Ausdruck in den Fallstudien für die Konferenz fand, zeigt uns, wie die Mitglieder der Fakultäten die Dekolonisierung in einer pluralistischen und weitgehend ländlichen Bevölkerung mit langen, fortdauernden Handwerkstraditionen und kleinteiliger industrieller Produktion sowie bestimmten kulturellen Praktiken empfanden und wie sie darauf reagierten. In jeder Fallstudie – von denen hier aber nur wenige diskutiert werden – wird das Produkt nicht nur als ein funktioneller oder ästhetischer Beitrag betrachtet, sondern auch als kulturelle Intervention, die auf soziale Bedingungen eingeht. Bei näherer Betrachtung weisen die Produkte auf das Entstehen einer Designethik hin, die sich den Aspekten Würde, Sicherheit und Gesundheit der indischen Bevölkerung zuwendet.

 

Im März 1977 berichteten Zeitungen über mehrere Landarbeiter*innen – Männer, Frauen und Jugendliche – die in ein Krankenhaus in der nordindischen Stadt Hissar eingewiesen worden waren. Ihre Hände waren beim Dreschen der Winterernte abgeschnitten worden. Die kurze Dreschsaison und die Dringlichkeit, mit der die Ernte auf den Markt gebracht werden musste, hatte die bäuerliche Gemeinschaft dazu veranlasst, die Sicherheitsvorrichtungen von den Maschinen abzumontieren, was zu „einer tragischen Konfrontation zwischen Mensch und Maschine“ führte[3]. Von dem Zeitungsartikel bewegt, kontaktierte das NID den Reporter und das Landwirtschaftsministerium, was zum Entwurf einer sichereren elektrisch betriebenen Dreschmaschine führte (Fall 3 – Design für Sicherheit: Elektrodrescher – eine Ernte des Leidens). Die Beschäftigung mit dem Landleben und die damit einhergehende Erkenntnis, dass dies ein Raum für Designinterventionen ist, unterstreicht die „gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Faktoren, die die Auswahl und die Wege zur Lösung von Designaufgaben beeinflussen“[4] (Hervorhebung des Autors). Das zeigt sich auch in den Entwürfen für die Sicherheit von Bergarbeiter*innen (Fall 4 – Design für den Faktor Mensch: Sicherheitsausrüstung für den Bergbau). Darin wird beschrieben, dass beim Entwurf der Schutzkleidung die körperlichen Belastungen berücksichtigt werden müssen, denen die Bergarbeiter*innen angesichts der hohen Temperaturen und der hohen Luftfeuchtigkeit in der Regenzeit ausgesetzt sind. Zugleich wurde die kulturelle Praxis des Betelnusskauens und des damit verbundenen Ausspuckens beachtet und dafür gesorgt, dass man bei der Arbeit sprechen konnte.

Zwei der 13 Fallstudien steuerten communitybasierte, an Gandhi orientierte Organisationen bei. Sie erinnerten daran, dass Design nicht nur an Designschulen stattfindet und auch nicht nur von ausgebildeten Berufsdesigner*innen betrieben wird. Eine zeigte verbesserte landwirtschaftliche Geräte (Fall 8 – Design für landwirtschaftliche Techniken: Arbeitsgeräte für den Bauernhof), die für weniger Erschöpfung und Plackerei sorgen sollten. Dabei sollte die Arbeit weniger, doch die Anzahl der Arbeitenden nicht verringert werden. Die Geräte konnten von Schmied*innen und Schreiner*innen hergestellt werden.

Das zeugt von einem sehr genauen Blick auf das Produktdesign in einem Land mit einer großen Bevölkerung, hoher Arbeitslosigkeit und Communitys mit traditionellen Fertigkeiten. Die andere Organisation befasste sich mit einem besonders widerwärtigen Aspekt der indischen Gesellschaft, dem Kastensystem, in dem ein Teil der Bevölkerung gezwungen ist, von Hand menschliche Exkremente zu entsorgen (Fall 9 – Design für die Würde der Menschen: das Problem der indischen Latrinen). Die Lösung war eine Hocktoilette aus Keramik, deren Spülung mit einem Minimum an Wasser funktioniert und die Exkremente in eine Grube spült, deren Inhalt später als Dünger verwendet wird. Hier geht das Produktdesign über die Funktionalität hinaus und wird zum Instrument für die Beendigung einer unmenschlichen gesellschaftlichen Praxis.

 

Kasten sind Berufsgruppen, und die Diskriminierung, die im Kastensystem ausgeübt wird, wird von den Fähigkeiten und dem Wissen begleitet, über die jede Kaste verfügt. In einer Region in Nordindien, in der es häufig Dürren gibt, arbeiteten Textil- und Produktdesigner*innen mit Weber*innen und Lederarbeiter*innen zusammen, um neue Produkte für den städtischen Markt zu entwickeln (Fall 12 – Design für Fortschritt auf dem Land: Für die Entwicklung in Jawaja lernen). Die Spannungen, die aus dieser Neuorientierung des Designs entstanden, waren auch den Designer*innen und ihren Lehrer*innen klar.

1977, bei der ICSID-Konferenz in Dublin, hatte der Direktor des NID, Ashoke Chatterjee, angemerkt: „Design, wie wir es lehren, betont vielleicht die Bedürfnisse der westlich orientierten, wohlhabenden Communitys im städtischen Indien und verstärkt damit deren Entfremdung von der indischen Gesellschaft … Es gibt Herausforderungen, die eine Neubewertung der Disziplinen und Curricula erfordern, die wir aus dem Westen importiert und in unsere alte, problematische Erde umgepflanzt haben.“[5] Die Grenzen des Imports von Philosophien, Pädagogikansätzen und Praktiken aus Europa und den USA erkannte auch der IDC-Dozent A. G. Rao: „Die Erfahrungen im Westen können uns nur einen Anhaltspunkt geben, und wenn kein Ansatz entwickelt wird, der zur Bewältigung der Probleme passt, deren Wurzeln in den sozialen, kulturellen und politischen Strukturen zu finden sind, bleibt unser Beruf ein weißer Elefant.“[6]

Geräte für den Bauernhof, entwickelt vom Agricultural Tools Research Centre, Bardoli (Fall 8 – Design für landwirtschaftliche Techniken: Arbeitsgeräte für den Bauernhof). Fotograf unbekannt, undatiert. Mit freundlicher Genehmigung der Archive des National Institute of Design, Ahmedabad.
Keramiklatrine, entwickelt bei Safai Vidyalaya, Ahmedabad (Fall 9 – Design für die Würde der Menschen: das Problem der indischen Latrinen). Foto von F. N. Pathan, undatiert Mit freundlicher Genehmigung der Archive des National Institute of Design, Ahmedabad.
Frühe Methode der Entsorgung menschlicher Exkremente von Hand (Fall 9 – Design für die Würde der Menschen: das Problem der indischen Latrinen). Foto von F. N. Pathan, undatiert. Mit freundlicher Genehmigung der Archive des National Institute of Design, Ahmedabad.
Preiswerter Rollstuhl mit seinem Designer, Shailendra Yagnik (Fall 2 – Design für Gesundheit: ein Rollstuhl für Indien). Foto von Avinash Pasricha, 1978. Mit freundlicher Genehmigung der Archive des National Institute of Design, Ahmedabad.
Verbessertes Fahrrad mit seinem Designer, S. Balaram (Fall 1 – Design für Verkehr: ein Fahrrad für Indien). Foto von Avinash Pasricha, 1978. Mit freundlicher Genehmigung der Archive des National Institute of Design, Ahmedabad.

An beiden Veranstaltungsorten gab es Ausstellungen indischer Produkte. In Ahmedabad war es ein „Querschnitt von Produkten, die im Dorf sowie in kleinen, mittleren und großen Industrieunternehmen hergestellt wurden“, die die „Fertigkeiten, Materialien und Produktionsstätten, die es in unserem Land gibt, sowie einige unserer wichtigsten Designherausforderungen“ vorstellten.[7]

Die Ausstellung stand Konferenzteilnehmer*innen und geladenen Gästen offen. In Bombay wurden Produkte vorgestellt, die am IDC entworfen worden waren, sowie eine Publikation mit dem Titel Industrial Design Centre: A Decade of Design Experience, die diese Anstrengungen beschrieb und in Anwesenheit der Delegierten veröffentlicht wurde. Das IDC hatte schon vorher seine Leistungen gemeinsam mit den Arbeiten der Mitglieder der Society of Industrial Designers of India (Vereinigung der Industriedesigner*innen Indiens) in der Ausstellung „Produkte für Menschen“ gezeigt, um „die Öffentlichkeit und die Industrie mit den Potenzialen des Designs bekannt zu machen“[8]. Sie fand in einer prominenten Kunstgalerie in der Stadt statt und wurde von mehr als 6000 Menschen besucht.

 

Als Gastgeber der UNIDO-ICSID-Konferenz zu fungieren und die 13 Fallstudien zu präsentieren, verschaffte den indischen Designer*innen einen Raum, in dem sie sich sowohl mit einem lokalen und auch internationalen Publikum auseinandersetzen als auch in der gerade entstehenden postkolonialen Ordnung einen Platz für die Designpraxis schaffen konnten. Mit einigen Teilnehmer*innen teilten sie eine koloniale Vergangenheit, die für ihren Status als „Entwicklungsländer“ verantwortlich war, und sie hofften, dass ihre Erfahrungen für alle wertvoll wären. Obwohl die Rolle der Industrienationen in dieser Situation nicht ausdrücklich hervorgehoben wurde, versicherte die auf der Konferenz verabschiedete „Ahmedabad Declaration on Industrial Design for Development“ (Ahmedabad-Erklärung zum Industriedesign für Entwicklung), dass „Designer*innen in allen Teilen der Welt daran arbeiten müssen, ein neues Wertesystem zu entwickeln, das die katastrophalen Trennungen zwischen den Welten der Verschwendung und des Mangels überwindet, die Identität der Menschen bewahrt und sich zuallererst der wichtigen Aufgabe widmet, die Bedürfnisse des weitaus größten Teils der Menschheit zu erfüllen“.[9]

Suchitra Balasubrahmanyan
(* 1964) ist eine Designhistorikern und Gastprofessorin, deren Arbeitsschwerpunkt Handwerk und Design des 19. und 20. Jahrhunderts ist. Sie war als kuratorische Beraterin am Projekt bauhaus imaginista beteiligt und vollzog die Bewegungen von Designidee und -expertise in Indien vor dem Hintergrund von Dekolonisierung, Nationalismus und der Diplomatie des Kalten Kriegs nach. Ihre derzeitigen Forschungen befassen sich mit „modernen“, im Blockdruckverfahren bedruckten Textilien in Westindien sowie deren Anpassung an aktuelle Themen und Empfänglichkeit für globale Einflüsse.