Issue number: 1
09 December 2022
Lesezeit: 8'
Regina Bittner
Regina Bittner führt in das Thema dieser Ausgabe ein und setzt es mit dem Begriff der "Travelling Concepts" in Beziehung zum komplexen Erbe des historischen Bauhauses.

Die Studiensammlung des National Institut of Design in Ahmedabad führt Designobjekte des 20. Jahrhunderts zusammen, deren Zusammenhang sich einem an stilistischen Merkmalen ausgerichteten linearen Narrativ westlicher Designgeschichte entzieht. Neben Fragmenten des Sessels B3 von Marcel Breuer findet sich der Bambus Cube von MP Ranjan – ein Objekt, welches er mit Studierenden in Zusammenarbeit mit ländlichen Handwerks-Communitys entwickelt hatte.

Stühle des japanischen Designers George Nakashima, der am NID lehrte und auf asiatische Sitztraditionen und Materialien zurückgriff, stehen in der Nachbarschaft von Möbeln von Gajanan Upadhyaya, der ebenfalls am NID lehrte – einige davon verweisen auf die Zusammenarbeit mit dem Ulmer Hans Gugelot, der in Ahmedabad kurzzeitig gelehrt hatte. Auch Stühle von Charles und Ray Eames, Ludwig Mies van der Rohe und Alvar Aalto sind hier versammelt. In den Wandschränken stapeln sich Körbe und Wassergefäße aus Keramik, die Studierende des NID während ihrer Kurse und Exkursionen zu ländlichen Handwerkstraditionen in sogenannten Craft Documentations zusammengetragen haben.

Ihren Ursprung verdankt die mit anderen Objekten vermischte Sammlung von westlichen Prototypen einer Wanderausstellung, die das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) erarbeitet hatte und die ab 1959 durch mehrere indische Städte tourte. Diese Ausstellung mit dem Titel „Design Today in America and Europe“ ist nicht nur ein Fallbeispiel amerikanischer Kulturdiplomatie im Kalten Krieg, sondern schrieb auch dem „guten Design“ als „maschinell hergestellter“, unmittelbar mit kapitalistischer Industrialisierung und Modernisierung nach westlichem Vorbild verbundener Produktgestaltung und Warenästhetik eine besondere Rolle zu. Während die Ausstellung also Designleistungen der westlichen Welt zeigte, diente sie auch dem Zweck, ein nicht westliches Publikum die Botschaft vom „guten Design“ zu „lehren“. Nachdem die Ausstellung zwei Jahre getourt war, wurden die Objekte dem neu gegründeten National Institut of Design, der Designausbildungsstätte für ein modernes Indien, übergeben.

Dass diese Prototypensammlung in ihrer Reinform als Display funktionaler, kapitalistisch-industrieller, hochtechnologisch hergestellter Massenprodukte nicht überliefert ist, lässt sich unter anderem auf die schon mit der Gründung des NID initiierten Kontroversen um eine Neupositionierung der Profession des/der Designer*in vor dem Hintergrund geopolitischer, aber auch sozial-ökologischer Umbrüche zurückführen. Singanapalli Balaram, selbst Lehrender am NID, hatte dem „modern movement, the reductionist, the rationalist and mechanist-type design movement“ (der Moderne, der reduktionistischen, rationalistischen und mechanistischen Designbewegung) eine tiefe Krise attestiert und mit seinem Programm des „Barefoot Designer“ (barfüßigen Designers) Lernorte im ländlichen Raum für eine an den lokalen Bedingungen des Herstellens und Machens ausgerichtete kollektive Gestaltungspraxis vorgeschlagen.[1]

Die 1979 im National Institut of Design Ahmedabad veranstaltete internationale Konferenz „Design for Development“ bildete den Höhepunkt dieses Designdiskurses, der Abstand vom hegemonialen westlichen Designparadigma nehmen wollte. Obwohl internationale Organisationen wie ICSID und UNIDO, die diese Konferenzen organisierten, ein zutiefst im „development paradigm“ (Entwicklungsparadigma) verankertes Designverständnis vertraten, formten diese zugleich Plattformen der kritischen Auseinandersetzung zu Fragen von Umwelt und Gestaltung im globalen Süden. Im Kontext westlicher Exporte von Modernisierungsmodellen in die Entwicklungsländer suchte man nach alternativen Praktiken für einen wirtschaftlichen und sozialen Wandel. In Ahmedabad sprachen sich die internationalen Delegierten für ein postkoloniales Verständnis von Design aus. Man wollte sich nun von der westlichen Hegemonie, die Design mit formalen ästhetischen Wertvorstellungen und universalistischen Geltungsansprüchen verband, lösen.

Die Ahmedabad Declaration, so Alison Clarke, sprach sich für „design as a tool for social change within a humanist paradigm that crossed both post-industrial and so-called developing nations“ aus, für ein Design als Tool für sozialen Wandel innerhalb des humanistischen Paradigmas, das sowohl die postindustriellen als auch die sogenannten Entwicklungsländer umfasst.[2] Hier formierte sich nun „ an alternative design movement underpinned by theories of anthropology, intermediate technology, development studies and Neomarxist critique of Western consumer culture“ (eine alternative Designbewegung, die die Theorien der Anthropologie, angepasste Technologien, Entwicklungsstudien und neomarxistische Kritik an der westlichen Konsumkultur untermauerte).[3]

National Institute for Design, Ahmedabad. Studiensammlung, Juni 2017. Foto: Regina Bittner

Warum scheint diese Sammlung für ein Journal, das Facetten der Dekolonisierung der Design Education diskutiert, einen geeigneten Reflexionsrahmen anzubieten? Zum einen konterkariert die Zusammenschau der hier versammelten Objekte, die im Kontext unterschiedlicher Lernexperimente, Herstellungspraktiken und Gestaltungsschulen entstanden sind, eine lineare Historiografie des Designs, die die Disziplin mit westlicher Urbanisierung und kapitalistischer Industrialisierung verband, dabei oft im historischen Bauhaus seinen Ausgangs- oder Referenzpunkt findet und eine heute zutiefst problematische Historiografie ausblendet, die aus der hegemonialen Perspektive der als universal verstandenen westlichen Moderne und ihrer Komplizenschaft mit kolonialer Ausbeutung, Umweltzerstörung, Extraktivismus und epistemologischer Hegemonie geschrieben wurde. Mehr noch handelt es sich um eine Geschichtsschreibung, die wesentlich eine Erzählung männlich entwerfender Gestalter*innen und ihrer Artefakte ist. Diesen noch immer die Designausbildung prägenden Historiografien gilt es, Erzählungen und Geschichten entgegenzusetzen, die diese als ein diverses Feld kollaborativer und konfliktreicher Praxis des Zusammenwirkens unterschiedlichster Akteur*innen, Ökonomien, Materialien, Praktiken, Wissensarten und Technologien beschreiben und dieses Feld zugleich als in Machtgefüge, Asymmetrien und Ungleichheiten strukturiert kenntlich machen.

Zweitens entstehen in dieser Un-Ordnung der Sammlung überraschende Objektgespräche, die zu spekulativen Pfaden und Redefinitionen gestalterischen Handelns, Lernens und Wissens einladen. Schließlich schlagen Diskurse zur Dekolonisierung des Designs auch eine ontologische Neuperspektivierung gestalterischen Handelns vor dem Hintergrund den gesamten Planeten betreffender Herausforderungen vor: Design wird dabei nicht mehr als Handlungsweise konzipiert, der die binären Codes der Vorstellungen von passivem, zu formendem, stummem, von Menschenhand zu bearbeitendem Material einerseits und einer eigenständigen kulturellen Überlegenheit der Welt der Ideen, Formen und Bedeutungen andererseits zugrunde liegen.

Die Körbe in der NID-Studiensammlung könnten als stumme Zeugen eines vollständig anderen Verständnisses von Designwissen und -handeln gelten: Tim Ingold leitet diese Neuperspektivierung aus der Praxis des Korbflechten (basket weaving) ab: „I mean to suggest that the forms are not imposed from above but grow from the mutual involvement of people and materials.“ (Ich möchte behaupten, dass die Formen nicht von oben vorgegeben werden, sondern aus dem Zusammenspiel von Menschen und Materialien erwachsen.)[4] Dieser radikale ontologische Wandel will nicht nur den inhärenten Anthropozentrismus westlichen Designdenkens überwinden und dabei ein Lernen von indigenen nichtwestlichen Epistemologien einfordern. An die Stelle der Vorstellung der Lösbarkeit und Machbarkeit von wie auch immer konzipierten Problemkonstellationen tritt ein Modus des Designhandelns als kontinuierlicher Prozess von co-habitation, co-constitution und becoming (Zusammenleben, Co-Konstitution und Werden), als reziproker Modus zwischen multiplen Spezies.

Daraus schließt sich der dritte für dieses Journal zentrale Aspekt der Praktiken und Epistemologien der Dekolonisierung an: Dekoloniales Denken entwirft, wie Ramon Grosfoguel vorschlägt, „a pluriversal as opposed to a universal world” (eine im Gegensatz zur universalen pluriversale Welt), die sich im „critical dialogue between diverse critical epistemic/ethical/political projects” (im kritischen Dialog diverser kritischer/epistemischer/ethischer/politischer Projekte) entfaltet.[5]

Damit verbunden ist die Aufforderung, Design nicht mehr als universal gültigen, sondern als situierten Modus des Handelns und Denkens zu verhandeln. Arturo Escobar spricht von „multiple transition narratives and forms of activism … veritable cultural and ecological transitions to different societal models going beyond strategies that offer anthropocene conditions as solutions” (multiplen Übergangsnarrativen und Aktivismusformen … wahrhaftigem kulturellem und ökologischem Wandel zu verschiedenen Gesellschaftsmodellen, die über die Strategien hinausgehen, die die Bedingungen des Anthropozäns als Lösungen anbieten).[6] Insbesondere in Südamerika und Südostasien entstehen in unterschiedlichsten lokalen Projekten Lernräume und Initiativen kooperativen und solidarischen Handelns als „minor gestures“ (kleine Gesten) eines strukturellen Wandels.[7]

Travelling Concepts

Die mit dem Bauhaus verbundenen pädagogischen Ansätze sind dabei nicht als „Legacy“ im Sinne einer sich fortschreibenden Tradition begriffen, die um das „Original“ des Bauhauses kreist. Vielmehr verfolgen die E-Journale ein methodisches Verfahren, das auf Begriffe wie „Travelling Concepts“ und „Translation“ zurückgreift. Lernexperimente, Ideen, Materialien, Narrative und Medien radikaler Pädagogik wandern durch Zeiten und Räume, doch diese Bewegung folgt nicht dem linearen Verständnis eines universalen Geltungsanspruchs dieser Konzepte. Was hier interessiert, sind verzweigte und oft auch holprige Routen von Übersetzungsverläufen, die das Original – wie es Walter Benjamin in seinem Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ vorschlug – nur noch wie „die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte“ berühren und ebenfalls zeitlichen Wandlungen ausgesetzt sind.[8] Wie lassen sich diese „acts of translation“ (Übersetzungshandlungen) in historischen Zusammenhängen als unaufhörliche Produktion von Bedeutungen durch den Wechsel von Kontexten erfassen?

Die Journale strukturieren sich entlang von Diskursfiguren „travelling concepts of design and art education“, die mit jeweils wechselnden Konnotationen und Bedeutungszuschreibungen die Suchbewegungen der Schulen und Initiativen in ständigem Austausch und Bewegung halten. Wie entgeht man dabei der Verlockung eines kontinuitätsstiftenden Verständnisses von „Legacies“, die sich mit der Bauhaustradition verbinden? Indem auch Bruchlinien, Nichtübersetzbares, Verwerfungen in den Blick geraten, die historische Veränderungsprozesse, wie es Doris Bachmann Mehdick betont, „in spannungsreiche Konfrontation mit Gegensätzlichem/Ähnlichem [setzen] und damit ein gebrochenes Bedeutungsspektrum durch historische Verwerfungen zur Anschauung“ bringen.[9]

Die Travelling Concepts beschreiben insofern eher Pfade, „routes of appropriation“ (Pfade der Aneignung), die anstelle der Vorstellung eines zeitlichen Verlaufs von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft Bewegungen zwischen unterschiedlichen Geografien, Zeiten und Kulturen verfolgen. Diesen verzweigten „holprigen Pfaden“ der Reformulierung gestalterischen Lernens als pluriverser solidarischer reziproker Gestaltungspraxis, die im Geflecht von asymmetrischen Wissensregimes und geopolitischen Gefügen, hegemonialen institutionellen Rahmungen und imperialen Ökonomien als praktische Utopien Gestalt gewinnen, will dieses Heft nachgehen.

In Konversationen, Feldnotizen, Reports und historischen Essays geraten die im modernen Designdiskurs inhärenten Abwesenheiten in den Blick, werden gescheiterte Versuche, Abstandnehmen und Verwerfungen ebenso reflektiert wie alternative Formen kollektiven gestalterischen Aktivismus, die den vielfältigen Suchbewegungen nach emanzipativem, solidarischem, pluriversem Designhandeln in historischen und aktuellen Umbruchprozessen eine Stimme geben.

Regina Bittner
(Dr. phil) ist Akademieleiterin und stellvertretende Direktorin der Stiftung Bauhaus Dessau und verantwortlich für die Konzeption und Lehre der Aufbaustudiengänge für Design, Bauhaus und Architekturforschung. Sie kuratierte zahlreiche Ausstellungen zum Bauhaus und zur Kulturgeschichte der Moderne. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören: internationale Architektur- und Stadtforschung, Moderne und Migration, Kulturgeschichte der Moderne und Denkmalpflege. Die Ergebnisse ihrer Forschung und Lehre wurden in zahlreichen Publikationen veröffentlicht. Sie studierte Kulturwissenschaften und Kunstgeschichte an der Universität Leipzig und promovierte am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2019 ist sie Honorarprofessorin am Institut für Europäische Kunstgeschichte und Archäologien der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.