Issue number: 1
30 November 2022
Lesezeit: 8′
Another Roadmap School
Lineo Segoete (ARAC-Another Roadmap Africa Cluster, Arbeitsgruppe Maseru) reflektiert über die praktischen Aspekte der panafrikanischen Koordinierung und ihre erkenntnistheoretischen Implikationen.

Nach Auffassung von ARAC (und damit auch der Another Roadmap School) fehlt der internationalen Kunstausbildung die grundlegende, differenzierte Forschung über die Praxis der Kunstbildung und die Epistemologie in den unterschiedlichen soziopolitischen Zusammenhängen Afrikas. Wir stellen fest, dass die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte und der fortdauernden Hegemonie westlicher Vorstellungen von Kunst und Bildung auf dem Kontinent unzureichend ist.

Ausgangspunkt unserer Arbeit ist, dass Land, Umfeld und Disziplin bestimmen, was wir letztlich zum Kollektiv beitragen. Das heißt, unsere Inspiration und Motivation resultieren aus unseren Gesellschaften und ihrer Politik, den Räumen und Orten, die wir bewohnen, sowie deren Architektur und natürliche Topografie, aus materiellen und immateriellen Dingen sowie natürlich aus den Gesprächen, an denen wir teilnehmen, denen wir zuhören oder die wir einfach zufällig mitbekommen. Im Lauf der Jahre haben wir darauf geachtet, wie wir kommunizieren, Stress abbauen und für uns sorgen, was wir essen und was uns Spaß macht. Unsere Treffen dienen deshalb als Schmelztiegel für Geburt und Wiedergeburt. Neue Prozesse und symbolische Ausdrucksformen entstehen und kulminieren in praktischen Ansätzen, die unsere verschiedenen Hintergründe widerspiegeln.

Unser Gestaltungsrahmen

1.
AUSSTELLUNGSBAUKASTEN

Eine ergebnisoffene Methode des Kunstschaffens und -lernens in neuen Gruppen, die Folgendes einschließt:
— Arbeiten, die durch die kollektiven Methoden von ARAC entwickelt werden
— Arbeiten, die durch das individuelle Schaffen von ARAC-Mitgliedern entstehen
— Objekte, die von Künstlern stammen, die mit ARAC verbunden sind

Dieses Tool richtet sich vorrangig an Mitglieder von ARAC, die unterwegs sind und das Kollektiv vertreten.

 

 

2.
(UN)CHRONO/LOGICAL TIMELINE (NICHT-)CHRONO/LOGISCHE TIMELINE

Die Timeline zielt darauf, Geschichten der Kunstbildung einschließlich der persönlichen Narrative zunächst in einem afrikanischen, dann auch in einem darüber hinausgehenden Kontext zu verorten. Die Arbeitsgruppe in Johannesburg hat dieses Konzept entwickelt, um ihre Schwierigkeiten mit dem Begriff „Geschichte“ zu bewältigen. In IsiZulu gibt es das Wort HIStory (Geschichte, seine Geschichte) weder als Maskulinum noch als Femininum. Stattdessen gibt es das Wort Umlando, das auch den Stiel einer Pflanze oder eine Geschichte beschreibt.

Diese Kombination aus Stiel und Geschichte repräsentiert die Zeit, den Beginn oder die eigentliche Essenz der Geschichte. Diese Timeline mit ihrem (nicht-)chronologischen Wesen repräsentiert Umlando über das Geschriebene hinaus bis in das Imaginäre, Gesprochene, Akustische und Visuelle hinein. Bei jeder Wiederholung entstehen unterschiedliche Interaktionen, die eine Antwort und manchmal Beobachtungen und generationenübergreifendes Engagement erfordern.

Die Timeline hat viele öffentliche Wiederholungen erlebt und manifestiert sich auf unterschiedliche Weisen. Das Format jedoch ist immer dasselbe. Die Menschen nehmen sich ein Stück Papier und erzählen von einem bedeutenden historischen Moment in der Kunst, in der Geschichte oder ihrem persönlichen Leben. Diese Geschichten werden in einer nichtlinearen Reihenfolge auf Plastikfolie oder auf dem Boden ausgebreitet. Danach sind die Teilnehmer*innen eingeladen, sich am Erzählen zu beteiligen und dann ihre Eindrücke mitzuteilen.

3.
KOFFER MIT DRUCKER-AUSRÜSTUNG FÜR UNTERWEGS

 

Dieses Konzept geht auf das Medu Art Ensemble zurück. Das Kollektiv bestand aus einer Gruppe von Kulturschaffenden, die während der Apartheid als Teil einer künstlerischen Protestbewegung Plakate schufen, bis ihre Arbeit 1985 von der südafrikanischen Armee in Gaborone in Botswana gewaltsam beendet wurde. ARAC stellt sich diesen Koffer in der Gegenwart vor. Er umfasst Materialien für den Monoprint, die in jedem Kontext verwendet und an alle Umstände angepasst werden können. Medu suchte nach Methoden der Grafikproduktion, bei denen Materialien und Fähigkeiten genutzt werden, die in Gemeindeorganisationen und Townships zur Verfügung gestellt werden konnten. Der Siebdruck konnte als relativ preiswerte und verfügbare Technologie entwickelt werden. Medu suchte nach Wegen, um neuere Siebdruckverfahren (etwa Fotoschablonen) an die Bedingungen der Townships anzupassen, wo die Menschen möglicherweise weder fließendes Wasser noch Strom haben. 1984 schlug die Grafikeinheit vor, den „Siebdruck-Workshop im Koffer“ herzustellen und zu verteilen. Es handelte sich dabei um einen tragbaren Kasten (50 x 75 x 15 cm) mit einer Siebdruckpresse, die Plakate im Format DIN-A2 drucken konnte, sowie Tinte, Rakel und Schablonenmaterial. Damit konnten Township-Organisationen selbst unter schlechten oder illegalen Bedingungen Plakate herstellen. (SAHO)

4.
HÖRSPIEL-/ARCHIV-AKTIVIERUNGEN

Die Natur unserer wechselseitigen Neugier führt uns unweigerlich ins Archiv. Wir durchforsten es nach audiovisuellen, fotografischen, akustischen und textlichen Portalen zur Vergangenheit, die uns dabei helfen soll, uns selbst und die gegenwärtigen sozialen Umstände im Allgemeinen zu verstehen. Ein Medium, das unser Interesse geweckt hat, waren das Radio und seine Performativität. In Hörspielen stellen wir uns Szenarios vor, in denen wir das Privileg haben, mit unseren intellektuellen Vorfahren zu sprechen und ihnen hypothetische oder philosophische Fragen zu stellen.

5.
BRIEFE SCHREIBEN

Ein Brief ist eines der wichtigsten materiellen Symbole der Solidarität. Die Newsletter des Medu Art Ensemble enthielten Briefe. Die Formate reichten vom allgegenwärtigen normalen Leserbrief wie „Letters from South Africa“ (Bd. 5, Nr. 2) bis zu „Poems from Vietnam” (Bd. 3, Nr. 3).

Diese beiden Beispiele können uns einen Einblick in die Bedeutung des Briefs im Lauf der Zeit geben. Der Brief ist sowohl ein Mittel der Kommunikation als auch ein Instrument zur Mobilisierung.

 

6.
POSTKARTENMETHODE

Mit dieser aus Lubumbashi stammenden Methode können sich Arbeitsgruppen gegenseitig Mitteilungen schicken, die entweder als Hinweise auf Aktivitäten dienen, die während der Abwesenheit der Empfänger stattfinden, oder deren Höhepunkte beschreiben. Diese Nachrichten können Aussagen, Fragen, Sätze oder Tipps sein, mit denen die Mitglieder die Verbindung aufrechterhalten und etwas in die von uns gepflegte Wissensökonomie einspeisen.

7.
SPRACHWORKSHOPS

Emma aus der Kampala-Arbeitsgruppe beschreibt es am besten: „Indigene afrikanische Sprachen werden in den Regionen, aus denen sie stammen, in Rechtsprechung, Verwaltung, Journalismus und im Bildungssystem regelmäßig marginalisiert. Sie werden von denen, die Macht haben, zu selten als Sprache für ernsthafte Diskussionen und Debatten ernst genommen. Sogenannte intelligente Menschen unterhalten sich in den Sprachen der früheren Kolonialherren. Einwander*innen aus Europa und Nordamerika und deren Nachkommen, die sich in Afrika niederlassen, können hier generationenlang leben, ohne jemals die Sprachen der Menschen, unter denen sie leben, beherrschen zu müssen. Diese Seite der Medaille ist eindeutig die falsche.“

Als Reaktion darauf haben Mitglieder der Arbeitsgruppen aus Lagos, Maseru, Johannesburg und Kinshasa jeweils Workshops rund um Sprache entwickelt: die Arbeitsgruppe aus Lagos interpretiert alte Schriftsysteme neu, aus der Maseru-Arbeitsgruppe kommen neue Wortschöpfungen und Orthografiestudien, die Arbeitsgruppe aus Johannesburg befasst sich mit der Erforschung der Kreolisierung/Pidginisierung beim Tsotsitaal (eine Mischung aus Sesotho, IsiZulu, Afrikaans und Englisch, die sich in populären Kneipen, Tavernen, Restaurants, bei Hochzeiten, Begräbnissen oder anderen sozialen Events entwickelte) und die Kinshasa-Arbeitsgruppe mit Neologismen, die in der zeitgenössischen Kunstpraxis in der Demokratischen Republik Kongo entstanden sind.

Die Auslöschung und Verwässerung der in Afrika einheimischen Sprachen wird auch dadurch verbreitet, dass die Menschen deren Wert nicht erkennen, weil sie darauf konditioniert sind, die Kolonialsprachen als überlegen zu betrachten. Wir hoffen, dass wir durch unsere Interventionen den Menschen vor Ort wieder mehr Macht geben und zugleich den Status der noch existierenden Sprachen aufwerten, indem wir den Wert des darin enthaltenen Erbes und der Geschichte unterstreichen.

8.
MENSCHEN, DIE ZUSAMMEN DENKEN, TANZEN ZUSAMMEN

Wir haben erkannt, dass wir uns nicht nur treffen sollten, um Forschungsergebnisse zu präsentieren, Feedback zu geben und zu planen, wie wir unsere Arbeit in unsere Communitys und Wirkungskreise tragen können. Deshalb haben wir es zur Tradition gemacht, gemeinsam zu tanzen und das als radikalen und emanzipatorischen Ansatz für Kultur, Bildung und Wissen im unabhängig gewordenen Afrika zu betrachten – die erfreulichen Nebenprodukte sind Spaß und Stressabbau.

9.
ÉCOLE DU SOIR

Die Abendschule zeigt eine Reihe von Filmen, die von dem Schriftsteller und Regisseur Ousmane Sembène inspiriert sind. Es handelt sich um ein pädagogisches Experiment, bei dem wir bewusst Filme zeigen, die sowohl zu unseren Praktiken als auch unseren Fragestellungen passen. Wir sind uns bewusst, dass der Film ein mächtiges Bildungstool ist, das massive soziale Veränderungen bewirken und Information auf eine Art und Weise verbreiten kann, die Menschen zusammenbringt und zu Gesprächen anregt. Der Film gibt der Gemeinschaft ihre Handlungsfähigkeit zurück, indem er ihr zeigt, dass die Menschen in der Lage sind, ihre eigenen Geschichten zu erzählen.

10.
DIE KÜCHE IST EINE TANZFLÄCHE

Praktisch alle Mitglieder von ARAC kochen gern. Deshalb wurde es zu einem Herzstück unserer Praxis, Geschmäcker und Rezepte aus unseren verschiedenen Gesellschaftsschichten auszutauschen. Während wir kochen, sprechen wir darüber, auf welche Art wir unseren Körper ernähren, wie wir Kochen als therapeutische Praxis auffassen und uns damit etwas Gutes tun.

11.
GEHEN, ERNTEN UND VERÖFFENTLICHEN

Wie die Überschrift sagt, gehen wir spazieren, um das zu verarbeiten, was wir gerade gelernt und gehört, erfahren und beobachtet haben. Die Kommunikation zwischen Körpern in Bewegung und Gehirnzellen bei der Arbeit spielt eine große Rolle für der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen, bis wir sie verstanden und verinnerlicht haben. Der nächste Schritt ist natürlich die Veröffentlichung.

Einige der Fragen, die uns zu diesen Methoden geführt haben

— Wo sollen wir die afrikanischen Geister begraben, nachdem das Christentum nun „afrikanisch“ geworden ist?
— Was geschieht, wenn die Geister unserer turbulenten Geschichte keine Ruhestätte haben?
— Stehen die Künstler*innen, die „entdeckt“ wurden, im Einklang mit ihrem gesamten Ökosystem?
— Wie bewohnen wir Geschichten, oder stellen wir uns Geschichte als Ressource vor?
— Wie beteiligen sich Pädagog*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen und Intellektuelle an der Suche nach Lösungen, die heute zu einer gerechteren Kulturproduktion führen?
— Warum gilt der Kulturbereich immer noch als elitär?
— Stimmt es, dass Kooperation nicht immer bedeutet, dass man Menschen im selben Raum zusammenbringt?
— Wie können wir Kino als Abendschule nutzen?

Fazit

Die Praxis von ARAC wird sich weiterentwickeln und vervielfältigen, indem neue Perspektiven integriert werden, alte Theorien überprüft und infrage gestellt und die Interaktionen mit Menschen außerhalb unseres Kollektivs (Expert*innen, Beobachter*innen und Freund*innen, die wir einladen) blinde Flecken und versteckte Kleinode aufdecken. Unser Wachstum hängt davon ab, und deshalb begrüßen wir das. Vor allem aber nehmen wir die Aufforderung an, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten und uns noch ausgiebiger mit ihnen auszutauschen.

Ein großes Dankeschön an Gudskul, die Mitwirkenden und die Stiftung Bauhaus Dessau.
Text von Lineo Segoete (Arbeitsgruppe Maseru)

Another Roadmap School
ist der Name eines internationalen Netzwerks von Praktiker*innen und Forscher*innen, die sich in 22 Städten auf vier Kontinenten in Museen, Kultureinrichtungen, Bildungszentren und Basisorganisationen für Kunsterziehung als engagierte Praxis einsetzen. Der Another Roadmap Africa Cluster (ARAC) umfasst alle Arbeitsgruppen in afrikanischen Städten. Es gibt sie derzeit in Kampala, Nyanza, Lubumbashi, Kinshasa, Maseru, Johannesburg, Lagos und Kairo. 2015 in Uganda gegründet, will ARAC in Afrika Diskussionen über Kunst und Erziehung fördern, insbesondere im Hinblick auf das epistemologische und ästhetische Erbe des Kolonialismus. ARAC will eine gemeinsame Wissensbasis und eine Struktur des gegenseitigen Lernens entwickeln, die für Kulturschaffende auf dem afrikanischen Kontinent zugänglich und bedeutungsvoll ist. ARAC entwickelte sich aus lokalen und regionalen Komponenten eines kollektiven Forschungsprojekts, das sich mit der Geschichte der Kunstbildung beschäftigt und auf einem Netzwerk von Pädagog*innen, Künstler*innen und Forscher*innen aus vier Kontinenten beruht. ARAC wurde vom Institute of Art Education der Züricher Hochschule der Künste (ZHdK) initiiert. Zu den ARAC-Arbeitsgruppen gehören Mitglieder der Keleketla! Library, von Keep the Dream Arts, Wits School of Arts (Witwatersrand-Universität) und unabhängige Kulturschaffende, die die Arbeitsgruppe in Johannesburg bilden, die Kampala-Gruppe in Uganda, die von der Nagenda International Academy of Art & Design (NIAAD) aus aktiv ist, die Lubumbashi-Arbeitsgruppe am Centre d’art Waza, die Nyanza-Arbeitsgruppe in Ruanda an der früheren Nile Source Polytechnic of Applied Arts (NSPA), die Maseru-Arbeitsgruppe in Lesotho des Ba re e ne re Literary Trust sowie die Kairo-Arbeitsgruppe in Ägypten, die ihren Sitz am Contemporary Image Collective (CIC) hat.