Issue number: 1
30 November 2022
Lesezeit: 7′
ba-bau AIR
Um einen Raum zu organisieren, müssen wir erst einen schaffen. / Um einen Raum zu erschaffen, müssen wir den richtigen Ort dafür finden – oder den richtigen Ort uns finden lassen. / Die Dinge geschehen zur richtigen Zeit am richtigen Ort – im Geist von Duyên. (1) / In diesem Zusammenhang bedeutet „einen Raum organisieren“, diesen Raum zu manifestieren, zu denken, zu machen, zu bewohnen und zu lieben.
ÜBER DEN RAUM

1.
DER RAUM IST EIN KÖRPER

In seinem „Fleisch” stecken sein Potenzial und seine Möglichkeiten. Er atmet voller Kraft und einem Gefühl für sich selbst; er darf nie ausgebeutet werden. Als Mitbewohner*innen interagieren wir täglich mit seinem „Körper“; manchmal berühren wir uns, manchmal tun wir absichtlich nichts.

2.
DER RAUM IST EIN AUFBEWAHRUNGSORT, EIN GEFÄSS, EINE EINKAUFSTASCHE

In ihm stecken die Geister, Energien und Emotionen derer, die mit ihm zusammentreffen. Wie wir muss sich auch ein Raum ausruhen. Die Frage ist: Können wir berechnen, wie viel Ruhezeit ein Raum benötigt?

Stage(s) of Resting (Zweikanalvideo, Kassel 2022) stellt eine Frage über das „Ausruhen“ an all unsere Kollektivmitglieder. Nguyễn Duy Anh (Filmemacher, Mitglied des Kollektivs ba-bau AIR) drehte ein Video über unseren Raum in Hà Nội, während gerade die Schädlingsbekämpfung bei der Arbeit war. Wie bei einer Intervention und mit Respekt versuchten wir, nicht in diesem Raum zu sein, wir versuchten, ihn nicht zu berühren. In diesem Augenblick war es so, als würde der Raum ruhen.
Wir lernen, dass Ruhezeit sich vielleicht nicht planen und festlegen lässt, ebenso wie bei einem Menschen, der nur ruht, wenn er krank ist. Ein Raum hat seine eigenen Präferenzen und Logik des Ruhens, und es kann schwierig sein, die physischen und geistigen Anforderungen eines Raums auseinanderzuhalten. Mehr als einmal haben uns Geister, die seit fast einem Jahrhundert hier leben, dafür gescholten, wie wir mit dem Raum umgehen. Einmal hat uns unser verstorbener Vermieter daran erinnert, wie wichtig ihm sein geliebter Küchentisch ist, indem er alle unsere elektrischen Geräte abgeschaltet hat. Es gibt unausgesprochene Grenzen, die keine Fehler zulassen. Wenn es über diese heiligen Linien Unstimmigkeiten gibt, werden wir von den Beobachter*innen des Raums von Zeit zu Zeit daran erinnert.

Und war bedeutet „heilig” überhaupt? Wie wir einen Raum verehren, ist eine ganz persönliche Angelegenheit. Unser Kollektiv hat sich um eine gemeinsame Zuneigung zum Raum herum gebildet. Zugleich kann diese Verehrung aber in den Augen derer, die unsere Gefühle nicht teilen, vollkommen irrelevant erscheinen. Darum führen diese Spannungen und Widersprüche zu einem konstanten Verhandlungsprozess zwischen den unterschiedlichen Beobachter*innen und Fürsorgenden.

3.
DER RAUM IST NIE FESTGELEGT.

Der Raum fluktuiert, expandiert und zieht sich zusammen. Wem er gehört, ist fließend. Er zeichnet sich durch „AIR“ (Atmosphäre), eine Haltung und Flüchtigkeit aus. Alles innerhalb und außerhalb des Raums kann und sollte noch mehr Raum im Fluss belassen. Man kann den Raum nicht besitzen, aber man kann ihn für sich beanspruchen und den Raum in enger Verbindung mit dem Nichtbesitzen weiter nähren.

4.
RAUM IST IRREAL. RAUM IST FIKTIONAL.

Das Haus ist irreal. Das Haus ist fiktional.
Dass wir es bewohnen, ist irreal. Unser Sein ist irreal.
Wir erschaffen den Raum.
Wir erschaffen das Haus.
Wir sind der Raum.
Wir sind das Haus.

5.
PASS DICH DER SITUATION AN, WENN SIE SICH ERGIBT. HINTERFRAGE DIE NORMEN, DIE SICH AUS SOLCHEN SITUATIONEN ERGEBEN.

Über das Besitzen

6.
EIN GEMEINSAM BESESSENER RAUM IST EINER, IN DEM JEDE UND JEDER EINZELNE BEWOHNER*IN IN DIE VERANTWORTUNG DES BESITZENS MITTRÄGT.

Ein Raum kommt allein ohne spezielle Besitzer*innen aus, denn jede*r ist sowohl Besitzer*in als auch Nichtbesitzer*in. Zwischen Gastgeber*innen und Gästen gibt es keine Unterscheidung.

Das häusliche Leben zu teilen, selbst die alltäglichsten Aufgaben wie Putzen oder Blumengießen, heißt, den neuen Mitbewohner*innen die Erlaubnis zu erteilen, mitzumachen und für ihre neu gefundene Eigenschaft als Besitzer*in Verantwortung zu übernehmen. Das Bewusstsein für eine Eigentümerschaft zu teilen, ist so einfach wie für jede und jeden, jederzeit einen Schlüssel bereitzuhalten, beim Abwasch zu helfen oder die Bücherregale umzuräumen. Diejenigen, die den Raum benutzen, haben gleichermaßen Zugang zu ihm. Der Raum soll behaglich sein und nach Wunsch benutzt werden können, sei es zum Arbeiten, Ruhen oder um Verkehrsstaus zu umgehen. Der Raum bittet nur darum, dass die, die ihn nutzen, seinen Zustand aufrechterhalten, damit sich auch andere Menschen in ihm wohlfühlen können.

Natürlich befindet sich der Raum in einem fließenden Zustand, wie die Wellen eines Flusses. Er ist transparent, widerstandsfähig und bewegt sich in seinem eigenen Tempo.

7.
EIN SICHERER RAUM IST EINER, DER ALLEN DIE FREIHEIT BIETET, IHR EIGENES TEMPO BEIZUBEHALTEN, OHNE STRESS ZU BEREITEN UND SICH ÄUSSEREN KRÄFTEN (ZUM BEISPIEL DEM STAND DER SONNE) ZU UNTERWERFEN.

 

Es gibt kein universelles Zeitgefühl!
Zeit ist relativ. Die Zeit steht still, hört auf zu existieren oder wird in diesem festgelegten Setting vernachlässigt – oder zumindest sieht es so aus.
Zeit wird geteilt und kann nicht besessen werden.
Hier gibt es keine festgelegte Zeitlichkeit.

In dem Raum an der Adresse 82A Thợ Nhuộm, bà bầuHà Nội krümmt sich die Zeit je nach Dichte, Energie und Narrativ dessen, was gerade passiert. Das erste Jahr der Pandemie wurde außerhalb unserer Timeline sofort vergessen: kontaktlos, eventlos, geschmacklos. Im Sommer des zweiten Pandemiejahres, zwei Tage nach Ausrufung des öffentlichen Notstands, wurde unser Haus zu einem Quarantäneraum und blieb das für zwei ewig lange Monate. Meist kommt es nach dem Essen zu Überraschungstreffen. Gespräche dauern mehrere Teekannen lang. Entweder geht jemand reumütig nach Hause, weil unser lokaler Fahrradwächter nicht länger aufbleiben kann, oder jemand läuft noch schnell in den Laden und kauft eine Zahnbürste, damit er oder sie über Nacht bleiben kann. Bei den Küchengesprächen schwelgt jede*r im eigenen Orbit: Linh schnitt unserem Gastredner überraschend die Haare, Nga wusch ab, Chung fegte, andere Teilnehmer*innen teilten eine Wassermelone auf und nahmen die Session auf. Ganz plötzlich, alles im selben Raum, ungeplant, ohne Kraftaufwand, gut verwoben und ohne Konflikte.

8.
PASS AUF DAS HAUS, DIE KATZEN, DIE PFLANZEN UND DIE NACHBAR*INNEN (UND NACHBARSCHAFT) AUF,

 

sowohl freiwillig als auch als Pflicht, um eine robuste und gesunde Zukunft für die Community sicherzustellen. Ein Kollektiv ist nicht nur eine besondere Gruppe. Dabei geht es auch um das Leben und Milieu drumherum. Alles, was nährend wirkt und Samen legt, kann das weitere Wachstum des Kollektivs und seiner Arbeit fördern.

9.
BENUTZE FÜR DEN ENTWURF DES RAUMS SO WENIG MATERIAL

wie möglich. Wo immer möglich, soll es wiederverwertet oder recycelt werden. Horte nichts! Schreibe jedem Objekt einen Zweck und Potenziale in diesem Raum zu. Objekte, bei denen das nicht geht, sollten Menschen gegeben werden, die sie brauchen.

10.
ALLES KANN MOBIL, ERSETZBAR; LEICHT AUSEINANDERZUNEHMEN UND WIEDER ZUSAMMENSETZBAR SEIN,

sowohl was die Form als auch die Funktion betrifft. Je nach Zweck haben alle Benutzer*innen jederzeit Rechte und tragen Verantwortung für den Raum und die Dinge darin.

ÜBER DAS LERNEN

11.
DIE BEWOHNER*INNEN WERDEN ERMUTIGT, DEN RAUM ZU NUTZEN, ZU GESTALTEN UND BEREITZUSTELLEN, JE NACH IHRER EIGENEN PRAXIS UND IHREN INTERESSEN.

2 Aneignungen, 2 Lektionen:

Nghias Lesesessions können vorübergehen, ohne dass jemand ein Wort sagt. Manche Sonntage verlaufen ruhig in der dicken Sommerluft, in der schon schwer der Regen hängt. Zwischen den Worten und den Seiten drückt eine dichte Atmosphäre auf ba-bau.

Duy Anh und Ngas Kino Hoa Quỳnh (Epiphyllum) zeigt von acht Uhr abends bis drei Uhr morgens Filme (nach der inneren Uhr der beiden schlaflosen Kinobegeisterten). Offenbar aus dem Nichts und aus einem nichtexistenten Budget haben sie eine kinotaugliche Filmleinwand aufgestellt. Zweimal in der Woche schwelgen sie in Filmen, manchmal mit einem Drink, manchmal mit Gästen, manchmal weder mit dem einen noch dem anderen, aber immer lachend. Kurz danach, keiner weiß wie, wird Nga an der Universität für Theater und darstellende Künste in Hanoi angenommen.

Solche Aneignungen weiten aus, drängen voran und lehren uns etwas.

So lernen die Menschen. Der Raum lernt auch.

ba-bau AIR
ist ein unabhängiger, von einem Kollektiv geführter Wohnort, ein Atelier und eine Küche im Zentrum von Hanoi und wurde 2019 gegründet. Im Zentrum von ba-bau AIR steht das Konzept von Duyên (vorbestimmte Begegnung). Es verbindet, unterstützt und entwickelt multi- und interdisziplinäre Kooperationen. ba-bau AIR wirkt als Medium, als sicherer Ort, an dem man nicht nur das Konzept des Raums an sich, sondern auch alles und jeden, die auf diesen Ort treffen, beherbergen, mit ihm zusammenleben, sich unterhalten und experimentieren kann.