Issue number: 2
23 November 2022
Lesezeit: 9′
Klára Prešnajderová
Am Anfang war die Angst vor dem „Künstlerproletariat“

Als am 1. November 1928 von der Handels- und Industriekammer in Bratislava drei abendliche Zeichenkurse in provisorischen Räumlichkeiten eröffnet wurden, horchten progressive Fachkreise in der ganzen Tschechoslowakei auf. Dabei handelte es sich um eine Nachricht, die es normalerweise höchstens in die lokale Tageszeitung geschafft hätte. Die Erklärung für die Zuversicht, mit der plötzlich so viele Richtung Bratislava blickten, lieferte das Prager Blatt des Tschechoslowakischen Werkbundes Výtvarné snahy (Kunstbestrebungen). „Diese ständigen Abendkurse sind entstanden als ein Versuch für eine künftige Kunstgewerbeschule“,[1] berichtete die Zeitschrift beinahe unverzüglich. Wenn man zudem bedenkt, dass es sich dabei um die überhaupt erste öffentliche Kunstschule auf dem Gebiet der Slowakei handeln sollte, wird klar, warum sich mit dieser Initiative so große Hoffnungen verbanden.

Der Eröffnung der Zeichenkurse gingen mehrjährige Bestrebungen um eine Reform des slowakischen Kunstgewerbes bzw. der slowakischen Volkskunst voran. Getragen wurden sie vor allem von dem tschechischen Reformpädagogen und künftigen Direktor der Schule, Josef Vydra, der im ersten Schritt zum Leiter der Abendkurse ernannt wurde. In hohem Maße ist es auch ihm zu verdanken, dass bereits vor der Gründung der geplanten Kunstgewerbeschule ihre konsequent moderne Ausrichtung festgelegt und bis zu ihrer Schließung im Jahr 1939 eingehalten wurde. Die Entscheidung über die Gründung und das Programm der Schule wurde bereits 1927 gefällt, als das zentrale tschechoslowakische Ministerium für Schulwesen alle beteiligten Parteien zu einer gemeinsamen Besprechung aufrief. Vydra durfte bei dem Treffen selbstverständlich nicht fehlen. Obwohl Einigkeit darin bestand, dass die Slowakei eine Kunstschule benötigte, sollten bereits hier schwerwiegende Diskrepanzen zwischen progressiven und konservativen Auffassungen die Diskussion prägen. Josef Vydra erinnerte sich an die Besprechung folgendermaßen: „Es war gerade der Sektionschef [des Ministeriums für Schulwesen] Dr. Zd. Wirth, der sich gegen die Entstehung einer neuen Kunstschule und gegen die Erziehung von weiterem ,Künstlerproletariat‘ aussprach und mit seiner Einlassung ganz berechtigt die Gründung und das Programm der neuen Schule in der Slowakei, wo nur nach einer Kunstakademie geschielt wurde, auf ganz andere, praktische Schienen umleitete […].“[2] Den Charakter der ersten Kunstschule in der Slowakei bestimmte so von Anfang an die Abneigung gegen das sogenannte Künstlerproletariat, also die Absolvent*innen von Kunstakademien, deren Ausbildung für die Praxis ungeeignet war.

Verbindung mit den Lehrlingsschulen – ein vielversprechendes Experiment

Trotz ambitionierter Pläne und erster formeller Schritte drohte der Gründungsprozess zu scheitern. Denn solange kein geeignetes Gebäude zur Verfügung stand, konnte sich aus den abendlichen Zeichenkursen kaum eine vollwertige Kunstgewerbeschule entwickeln. Der entscheidende Impuls kam 1930, als die Bratislavaer Lehrlingsschulen in einen großen, funktionalistischen Neubau umgesiedelt wurden. Mit ihnen unter einem Dach auch die Kunstgewerbeschule unterzubringen, bot sich als die ideale und einzig mögliche Lösung an, um nicht nur an Klassenzimmer, sondern vor allem an gut ausgestattete Werkstätten zu kommen. Doch nicht nur das: Josef Vydra, der bis dahin die Zeichenkurse der Handels- und Industriekammer leitete, wurde zum Direktor beider Schulen ernannt.

Obwohl die Unterbringung der Kunstgewerbeschule im Gebäude der Lehrlingsschulen anfangs ein eher pragmatischer Schritt war, bildete diese Verbindung für Vydra den Ausgangspunkt für ein vielversprechendes Experiment. Während in ganz Europa die Verschmelzung von Akademien und Kunstgewerbeschulen zu einem neuen Kunstschultyp führen sollte,[3] sah Vydra die Lösung – zumindest für die Slowakei – in einer möglichst engen Verflechtung der Lehrlingsschulen mit einer progressiv ausgerichteten Kunstgewerbeschule. Die Ersteren profitierten von einer allgemeinen Erhöhung der künstlerischen Qualität ihrer Absolventinnen und Absolventen, da die Kunstgewerbeschule ŠUR als „strenger Geschmackskorrektor“ für die Lehrlingsschulen fungieren sollte.[4] Der Vorteil für die ŠUR bestand dagegen vor allem in der Möglichkeit, von den Lehrlingsschulen Schülerinnen und Schüler mit bereits vorhandenen Erfahrungen in Werkstätten zu rekrutieren. Dabei muss bedacht werden, dass in dieser Zeit die Anzahl der Auszubildenden in Bratislava etwa 2500 betrug.[5] Auch mithilfe eines im Schulgebäude untergebrachten Psychotechnischen Instituts suchte sich Vydra aus dieser Masse die größten Talente aus, denen ein aufbauendes Kunststudium angeboten wurde. Möglich war dieses Konzept auch dadurch, dass die Kunstgewerbeschule bis zu ihrer Schließung vorwiegend als Abendschule funktionierte und die Schüler*innen ihre eigentliche Ausbildung nicht aufgeben mussten. Neben Lehrlingen, für die das Studium hauptsächlich gedacht war, konnte an den Kursen praktisch jedermann mit Interesse für Gewerbe, Handwerk und Reklame teilnehmen. Entsprechend der handwerklichen Tauglichkeit wurde die Schüler*innenschaft in ordentliche Schüler*innen mit Gesellenbrief, außerordentliche Schüler*innen ohne Gesellenbrief und Kursteilnehmende eingeteilt.

Die enge Anbindung an den handwerklichen Nachwuchs, im Gegensatz zu den meisten Kunstschulen, die „lediglich mit studentischem Nachwuchs arbeiteten“[6], hob Vydra noch nach Jahren hervor: „Außer in Bratislava basierte bei drei zeitgenössischen Schulen in Europa die Ausbildung für angewandte Künste auf einer vorläufigen Kenntnis von Handwerk und auf einer organisatorischen Verbindung mit Gewerbeschulen: beim Bauhaus in Dessau, der Kunstgewerbeschule in Brüssel und der Kunstgewerbeschule in Zürich, bei den letzten beiden ebenfalls zusammen mit Lehrlingsschulen.“[7] Und noch im Jahr 1935 äußerte er sich selbstbewusst zu der Behauptung, das slowakische Bauhaus in Bratislava aufgebaut zu haben: „Die Schule ist und will keine Kopie des ehemals so berühmten Bauhauses sein, selbst wenn sie von Anfang an dessen Werdegang aufmerksam verfolgte. Ganz im Gegensatz stellt sie heute das lebenstüchtigere Modell dar, da sie durch die Verbindung mit den Lehrlingsschulen eine engere Annäherung an die Industrie und Produktion fand als das Bauhaus.“[8]

Gebäude der Lehrlingsschulen in Bratislava, 1930er-Jahre, Schwarz-Weiß-Fotografie, Archiv von Iva Mojžišová – Slowakisches Design Zentrum (SCD)
Vortrag von László Moholy-Nagy an der Kunstgewerbeschule Bratislava (ŠUR), 1931, Kontaktabzug, Archiv von Iva Mojžišová – Slowakisches Design Zentrum (SCD)
Schüler*innenarbeit aus der Grafik-Abteilung Fordson, Reproduktion in der Schularbeitenmappe 1931/1932, Archiv von Iva Mojžišová – Slowakisches Design Zentrum (SCD)
Elena Jamnická, Gewebter Teppich. Die Fotografie entstand als eine Materialstudie an der Fotografie-Abteilung. Reproduktion in der Schularbeitenmappe 1931/1932, Archiv von Iva Mojžišová – Slowakisches Design Zentrum (SCD)
Martin Brezina, Farbstudie für Küchendecke, 1931, Temperafarbe auf Papier, 39,8 × 52,9 cm, Slowakisches Design Zentrum (SCD)
Ausbildung anonymer, modernistischer Gestalter*innen für die Praxis

Der Charakter der Kunstgewerbeschule in Bratislava war auch stark geprägt von der Tatsache, dass Josef Vydra, solange er sich an die praktische und moderne Ausrichtung der neuen Bildungsinstitution hielt, beinahe freie Hand bei der Erstellung des Programms und der Auswahl seines Lehrkörpers hatte. Die fehlende Tradition des Kunstschulwesens in der Slowakei gab ihm die Freiheit, einzelne Abteilungen der Schule aufzubauen, ohne sich dabei an bereits vorhandene Strukturen halten zu müssen. Unter seiner Leitung verfolgte die Schule zwei grundsätzliche Linien. Einerseits wurden Abteilungen eingerichtet, die dem Curriculum der Lehrlingsschulen entsprachen,[9] andererseits reagierte die ŠUR auf das immer intensiver werdende Stadtleben und auf aktuelle Bedürfnisse des Handels, die an traditionellen Kunstgewerbeschulen oft nur unzureichend berücksichtigt wurden. So wurden schon ein Jahr nach dem Einzug in das neue Gebäude neben handwerklichen Abteilungen (Keramik, Holz, Mode und Textil) auch auf Werbung ausgerichtete Abteilungen eröffnet (Malerei, Grafik, Fotografie) sowie spezielle Kinderkurse. Im Schuljahr 1934/1935 kamen eine Metallabteilung sowie eine Abteilung für Schaufensterdekoration hinzu. Gerade bei der Letztgenannten handelte es sich um ein regelrechtes Novum, da keine andere öffentliche Kunstgewerbeschule in der Tschechoslowakei Schaufensterdekoration als offizielles Lehrfach anbot.[10] Doch der endgültige Beleg, dass Vydras Konzept der Kunstgewerbeschule sich an den aktuellsten Trends orientierte, war im Schuljahr 1938/1939 die Einrichtung einer Filmabteilung im Tagesstudium, die damals die erste und einzige öffentliche Filmschule in Zentraleuropa war. Damit hätte die ŠUR, wenn sie nicht kurz darauf geschlossen worden wäre, selbst mit international anerkannten Bildungsstätten konkurrieren und interessierte Schülerinnen und Schüler aus ganz Europa anlocken können.

Auf diese Weise verfolgte die Kunstgewerbeschule in Bratislava bis zu ihrer Schließung im Juni 1939 konsequent den Grundsatz, kein weiteres sogenanntes Künstlerproletariat auszubilden. Ja noch mehr: Bei dem von Josef Vydra umgesetzten Kunstschulmodell ging es nicht in erster Linie darum, individuelle Gestalter*innen mit eigenem künstlerischem Konzept auszubilden. Die Schülerinnen und Schüler der ŠUR sollten unter Anleitung des progressiven Lehrkörpers die Prinzipien moderner Gestaltung verstehen (dazu diente zum Beispiel auch das theoretische, für alle obligatorische Fach Zeitgemäßer Geschmack), diese durch praktische Arbeit in den Werkstätten in konkrete Entwürfe umsetzen und letztendlich in die Praxis überführen. Zugleich wurden aber auch das Experiment und das Erproben neuer Gestaltungswege betont. So lernten die Schülerinnen und Schüler der ŠUR neue Medien wie Fotografie und Film kennen, erstellten Collagen und erprobten neue Entwurfs- und Fertigungsmethoden. Moderne Techniken wurden auch dazu eingesetzt, eine eventuelle Unbeholfenheit beim traditionellen Zeichnen zu beheben, weil – und das darf bei der ŠUR nie vergessen werden – die Kunstgewerbeschule nicht mit künstlerischem, sondern mit handwerklichem Nachwuchs arbeitete. Zu diesem Zweck wurde das sogenannte mechanisierte Zeichnen eingeführt. Diese an der ŠUR entwickelte Methode setzte moderne Techniken wie Collage und Frottage sowie die Arbeit mit verschiedenen Schablonen ein, um auch künstlerisch nicht geschulten bzw. weniger begabten Schülerinnen und Schülern einen vollwertigen Entwurfsprozess ohne mühsames Zeichnen zu ermöglichen. Mit der Zeit wurde auch mechanisierte Raumkomposition eingeführt. „Die moderne Zeit fordert neue Unterrichtsmethoden, die zugleich rasch und wirtschaftlich sind. Die Mechanisierung ist das Vorgehen, das uns in der Schule erlaubt, dem Fortschritt der Zeit zu folgen. Das mechanisierte Zeichnen kürzt sowohl die Denkhandlung wie die Handbetätigung ab“,[11] stellte Vydra die Methode 1937 auf dem Internationalen Kongress für Kunstunterricht, Zeichnen und angewandte Kunst in Paris vor. Einige Jahre später fügte er noch hinzu: „Es waren einfachere Wege des gestalterischen Ausdrucks, geeignet für den knappen Abendunterricht.“[12]

Schüler*innenarbeit aus der Metallabteilung, Tintenfässer aus gebogenem Blech, Reproduktion im Jahresbericht 1934/1935, Archiv von Iva Mojžišová – Slowakisches Design Zentrum (SCD)
M. Wicková, Modezeichnung, Reproduktion in der Schularbeitenmappe 1931/1932, Archiv von Iva Mojžišová – Slowakisches Design Zentrum (SCD)
Schüler*innenarbeit im Fach Raum- und Materialkomposition, Karton, Spiegel, Zellophan, Draht, 1934–1938, Schwarz-Weiß-Fotografie, Privatsammlung
Linolschnitt aus der Kinderabteilung, Reproduktion im Jahresbericht 1934/1935, Archiv von Iva Mojžišová – Slowakisches Design Zentrum (SCD)

Auch mit solchen durchaus avantgardistischen Methoden versuchte man an der Kunstgewerbeschule in Bratislava, modern denkende Gestalterinnen und Gestalter zu erziehen, die in anonymer Arbeit in der Praxis zur Modernisierung der Slowakei beitragen sollten. Um es mit den Worten der tschechischen Kunsthistorikerin und Expertin für die Reform des Kunstunterrichts in der Tschechoslowakei, Lada Hubatová-Vacková, auszudrücken: „Die neue Generation der Lehrlinge und Schüler an der ŠUR sollte im Kontext der Reformideale eine breite Masse namenloser Handwerker bilden, die imstande sein konnten, die Gesellschaft mit gestalterischen Mitteln zu verändern.“[13]

Klára Prešnajderová
(*1981) ist promovierte Literaturwissenschaftlerin. Seit 2018 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Verwalterin des Archivs der Kunstgewerbeschule in Bratislava und Kuratorin im slowakischen Designzentrum tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Kunstzeitschriften der Zwischenkriegszeit, neue Typografie sowie die Kunstgewerbe- und Kunstschulreform in der Slowakei. Sie ist Herausgeberin (mit Simona Bérešová und Sonia de Puineuf) der Publikationen Schule als Laboratorium des modernen Lebens. Zur Kunstschulreform in Zentraleuropa (1900–1945) und ŠUR. Škola umeleckých remesiel v Bratislave 1928–1939 (ŠUR. Kunstgewerbeschule in Bratislava 1928–1939).