Issue number: 2
23 November 2022
Lesezeit: 8′
Catherine Nichols

„Damals, 1964, entschied ich, mich nicht mehr von Hass antreiben zu lassen“, schreibt die schwarze feministische Dichterin, Aktivistin, Journalistin und Lehrerin June Jordan, „sondern um der Menschen willen, die ich liebte, das zu nutzen, was ich liebte, Wörter. Aber über die Menschen um mich herum hinaus war mir nicht klar, was meine Liebe beinhaltete: Wofür war ich? Dennoch, die Agonie dieses Augenblicks brachte mich dazu, etwas zu wagen und mich an R. Buckminster Fuller zu wenden, dem ich eine kollaborative architektonische Umgestaltung von Harlem vorschlug. Das war meine erste, bewusste Bewegung weg vom Hass, weg von der Spaltung.“[1]

 

 

June Jordan, ca. 1969, Photo: Louise Bernikow, Image courtesy of the June Jordan Papers, Schlesinger Library, Radcliffe Institute for Advanced Study, Harvard University
Entrance to the Donnell Library, where June Jordan immersed herself in the study of design during the 1960s, 1963 Image courtesy of the New York Public Library Archives, The New Public Library Digital Collections, New York

Der „Augenblick”, auf den sich Jordan bezieht, der sie dazu veranlasste, es zu wagen und sich an Fuller zu wenden, ist genau der, an dem 1964 der Harlem Riot, der Aufstand in Harlem, ausbrach, nachdem James Powell, ein unbewaffneter 15-jähriger Schwarzer, von einem weißen Polizisten auf der Upper Eastside in Manhattan erschossen wurde – nur ein paar Tage nachdem Lyndon B. Johnson den Civil Rights Act, das neue Bürgerrechtsgesetz, unterzeichnet hatte. Diese Zeit beschreibt Jordan als den „Zenit ihrer Beschäftigung“ mit den visionären Ideen des unkonventionellen Architekten, Designers, Philosophen, Dichters und Erfinders.

Nachdem sie viele gestohlene freie Momente über den Büchern in der Donnell Library verbracht und sich in deren Seiten „zwischen Räumen und Türen und japanischen Gärten und Bauhausstühlen und -löffeln“ verloren hatte, begann Jordan, an die transformativen Möglichkeiten des Designs zu glauben. Sie tauchte in die Prinzipien des Bauhauses ein und fragte sich, ob vielleicht ein Löffel reichte, um dem „endlosen, dysfunktionalen Gerümpel/Material ohne Moral, dem eindeutig degenerierenden Morast und Schlamm, dem Slum, der Resignation“, die den in Armut lebenden Menschen schadeten, etwas entgegenzusetzen.[2] Dennoch musste sie erst Buckminster Fuller „kennenlernen“ – ebenfalls in der Bibliothek, und zwar mittels Fotos von seinen Erfindungen, Geschichten über sein Leben und seiner Schriften, die sie verschlang, darunter Nine Chains to the Moon (1938) und Erziehungsindustrie (1962, dt. 1970). Dann verfestigte sich in ihr die Überzeugung, dass Design eine soziale Revolution lostreten könnte. Fullers selten realisierte gedankliche Abenteuer lagen ihr auf der Seele „als eine Ahnung, auf die man in einer amerikanischen Landschaft erst noch setzen musste, in der jeden Tag die tödliche Polarisierung der Völker nach ihrer Hautfarbe immer grausamer wurde, während die weiße Gewalt gegen schwarze Leben eskalierte“.

Eine Woche nach dem Aufstand schrieb Jordan dem aufgeschlossenen Fuller einen Brief und setzte damit eine lange Zusammenarbeit in Gang, bei der ökosoziale Gegenentwürfe entstanden. Sie fanden ihren Höhepunkt in dem Projekt „Skyrise for Harlem“, einem konkreten Plan, der das „Tal der Schatten“ verschwinden lassen und „den sich selbst erhaltenden Verfall von Wänden, Decken, Türen und Leben“ beenden sollte, der damals Heimat von einer Viertelmillion Menschen war. Auch sollte das „halbe Jahrhundert Verzweiflung” radikal ausgetrieben werden, und zwar so, wie es eine „teilweise Renovierung“ oder „unsystematische Heilung“ nie erreichen könnte.[3] Statt die Stadterneuerung vom Rauswurf der Bewohner abhängig zu machen, wie es damals üblich war – und bis heute ist –, sah ihre Vision vor, die neuen Wohngebäude über die alten, baufälligen Mietskasernen zu bauen. Die Bewohner*innen sollten dort wohnen bleiben können, bis sie innerhalb eines konischen Baus in ihre neuen Wohnungen zögen, in denen jedes Fenster einen Ausblick bot. Sie kalkulierte für diesen Prozess drei Jahre ein. Und er sollte partizipativ sein. Die Bewohner*innen von Harlem sollten an der „Geburt ihrer neuen Realität“ beteiligt werden, einer Realität, die ihnen das sichere Gefühl vermitteln sollte, dass „Kontrolle über die Qualität des Überlebens möglich und dass jedes Leben wertvoll ist“.[4] Nach Fertigstellung der erhöht stehenden Türme sollten die alten Gebäude abgerissen werden und Platz machen für Parks, offene Räume, öffentliche Sitzgelegenheiten und sicherere Gehwege. „Niemand“, bekräftigt Jordan in ihrem Artikel über das Projekt im Magazin Esquire, „wird irgendwo anders hinziehen als nach oben.“

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung traf der Artikel auf breite Skepsis und ziemlich viel Spott. Sein Inhalt, den die beiden gemeinsam entwickelt hatten, wurde Fuller zugeschrieben. Heute aber gilt der Plan – obwohl er nie umgesetzt wurde – als entscheidender Meilenstein in der Geschichte des umweltgerechten Designs. Denn wer außer Jordan, fragte K. Wayne Yang, „hat Möglichkeiten für Schwarze entworfen, bei denen die schwarzen Communitys intakt bleiben, schwarze Menschen an ihrem Heimatort bleiben konnten und das Schwarzsein in die Landschaft integriert wurde? Sehen Sie sich ihren Entwurf an und entscheiden sie selbst, ob das auch für Sie wie Wakanda aussieht.“[5]

June Jordan and R. Buckminster Fuller, Skyrise to Harlem, 1965; reproduced in June Meyer, ‘Instant Slum Clearance’, Esquire 63, no. 4 (April 1965)
One of the housing communities incorporated into Jordan and Fuller’s vision for Harlem was Riverton, which runs between 135th Street and 5th Avenue to 138th Street and from 5th Avenue to the Harlem River, 1963. Image courtesy of the Bettmann Archive
R. Buckminster Fuller and Shoji Sadao with June Jordan, Harlem Skyrise Project, ca. 1960, Courtesy Columbia University Graduate School of Architecture, Planning and Preservation
Buckminster Fuller inside His Geodesic Dome, Summer 1949 Photo: Hazel Larsen Archer Image courtesy of the Estate of Hazel Larsen Archer and the Black Mountain College Museum + Arts Center

Was an dieser „architextuellen Zusammenarbeit“[6], an diesem poetischen Experiment eines „umfassenden Designs“, dieser aufschlussreichen Übung in Design als Widerstand, als soziale Verantwortung, als Revolution zugleich verblüffend und lehrreich ist, sind die vielfältigen Einblicke, die es bietet – und die grundlegenden Fragen, die es stellt –, und zwar über die Entwicklung von Design als Beruf. Diese Einblicke, diese Fragen könnte man als Ausgangspunkt für die Fragestellungen betrachten, die in dem vorliegenden Journal Die neuen Designer*innen–Design als Beruf gesammelt sind.

1.

Die erste derartige Einsicht bezieht sich auf die Rolle des Aufstands, tatsächlich sogar der Krisen – soziale, ökonomische, politische oder ökologische –, die die Gestalt des/der neuen Designer*in hervorbringen und ständig neu formen, „einen sozialen Typus mit einer humanistischen, universellen Sichtweise“, der „für das Wohl der Menschheit als Ganzes arbeitet“.[7] Es gibt wenig Einigkeit darüber, was „sozial“ wirklich bedeutet, was wirklich dem Wohl der Menschheit dienen würde oder ob es sinnvoll ist, sich die „Menschheit als Ganzes“ vorzustellen. Dennoch waren von Anni Albers bis Arturo Escobar nur wenige Designtheoretiker*innen bereit zu bestreiten, dass Krieg, Bürgerunruhen und Klimakatastrophen Auswirkungen auf die Designpädagogik und -praxis haben.

 

 

2.

Zweitens könnte man anerkennen, dass sich in Slums und Sozialsiedlungen, in Krieg und strukturellem Rassismus ebenso viel Design finden und sich von ihm lernen lässt wie in Jordans und Fullers „Skyrise for Harlem“ oder, was das betrifft, in jeder anderen von Fullers Visionen für das Raumschiff Erde. Wie Fullers Freund und Kollege Victor Papanek in Design für die reale Welt zeigte, ist Design untrennbar mit sozialen Prozessen verbunden. Es kann soziale Gerechtigkeit sowohl unterminieren als auch fördern. Dennoch wird es meistens zum Werkzeug der Technokratie oder einem Katalysator für Konsum statt zu einer Kraft, die sozialen Wandel bewirkt.[8] Auch wenn sie noch so poetisch und wichtig sind, werden wohlmeinende Beobachtungen wie die der in Kuba geborenen, mexikanischen Designerin Clara Porset, die in allem Design erkennt, „in einer Wolke … in einer Mauer … in einem Stuhl … im Meer … im Sand … in einem Topf“[9], für unsere Denkweise wenig Bedeutung haben, solange wir in die Liste nicht auch die iCloud … die Berliner Mauer … den elektrischen Stuhl … den Plastikozean … Sanderosion … Kiffer aufnehmen.

3.

Drittens könnte man die erkennbare Spannung zwischen konkurrierenden Visionen des totalen Designs unterscheiden, die den/die neue*n Designer*in geformt haben. Sowohl Jordan als auch Fuller fehlt es auf unterschiedliche Weise an Selbstreflexion bezüglich ihrer Verstrickungen mit Kapital und Industrie. In Jordans intellektuellem Übergang von Teelöffeln zu Hochhäusern, quasi vom Bauhaus zu Bucky, ist eine Spannung enthalten, die einerseits den erfolgreichen Export des Bauhausdenkens in alle Ecken der Welt widerspiegelt. Mark Wigley weist darauf hin – und das diskutieren auch verschiedene Beiträge im vorliegenden Journal –, dass nicht nur „Objekte entworfen, in Massen produziert und verbreitet wurden … Sogar die Lehre in den Ateliers war ein Produkt. Gropius sagte, erst 1928 habe er das Gefühl gehabt, sich zurückziehen zu können, weil endlich der Erfolg des Bauhauses durch die Berufung seiner Absolvent*innen auf Lehrposten in fremden Ländern und durch die internationale Übernahme seines Curriculums gesichert sei.“[10] Andererseits aber spricht das Vertrauen, das Jordan in Fuller mit seiner ungestümen, allumfassenden Philosophie des Schutzes und des Überlebens setzte, für eine wachsende, von vielen geteilte Präferenz für seine humane, humorvolle, hoffnungsvolle Marke experimenteller Interdisziplinarität. Trotz seiner offensichtlichen Fehlbarkeit nahm sein Aktionsplan, „die Welt in kürzestmöglicher Zeit für 100 Prozent der Menschen durch spontane Zusammenarbeit ohne ökologische Verstöße oder Nachteile für irgendjemanden funktionieren zu lassen“[11], den Menschen den Atem.

4.

Viertens sollte man die komplexen Dynamiken beachten, die in Designpädagogiken am Werk sind – und wie sie in die Geschichte eingehen. Jordan erlangte ihr Wissen über Design, indem sie seine Produkte und die Ideen dahinter in den Büchern einer Bibliothek studierte. Sie unterschied sich in gewisser Weise gar nicht so sehr von Anni Albers und ihren Mitstudierenden am Bauhaus in Dessau, die entgegen der üblicherweise verbreiteten Mythen und Überlieferungen behaupteten, nicht im eigentlichen Sinn „ausgebildet“ worden zu sein. Ihr Handwerk hatten sie nicht gelernt, indem sie den „großen Meistern“ Wassily Kandinsky und Paul Klee lauschten, von denen sich keiner je dazu herabließ, mit den Studierenden zu sprechen, sondern indem sie deren Werke studierten[12] und sich vor allem in einer chaotischen, aber inspirierenden laborartigen Situation „herantasteten und ausprobierten … experimentierten und etwas wagten“.[13] Josef und Anni Albers und auch Buckminster Fuller selbst blieben dabei, dass sie erst in den Vereinigten Staaten und insbesondere am Black Mountain College allmählich formale Lehrmethoden entwickelten – im ständigen Austausch mit ihren Studierenden und den anderen Lehrenden. Dasselbe gilt für viele ihrer am Bauhaus ausgebildeten Kolleg*innen, ob sie am Black Mountain College oder an irgendeiner anderen reformorientierten Bildungsinstitution rund um die Welt unterrichteten.

Obwohl Jordan nie eine Designschule besucht hatte, obwohl sie nie mit modernen oder zeitgenössischen Designpädagogiken in Berührung kam, konnte sie ihre selbst erworbenen Kenntnisse über modernes Design einbringen, um gemeinsam mit Fuller die Umgestaltung Harlems von Grund auf zu planen. Mit ihrer außerinstitutionellen Reichweite konnte sie mit einem angesehenen, praktizierenden Designer ein Team bilden, der, wie sich aus ihrer ausgiebigen Korrespondenz erkennen lässt, von Jordan ebenso viel über Soziologie und politische Vorstellungskraft lernte wie sie aus seiner „Comprehensive Anticipatory Design Science“ (umfassende vorausschauende Designwissenschaft).[14]

Bis vor Kurzem haben alle Artikel und Ausstellungen über dieses Projekt es ausschließlich Fuller zugeschrieben. Hätte Jordan selbst nicht in Civil Wars über ihre Zusammenarbeit geschrieben, müssten wir noch immer auf die kritische Neubewertung warten, die ihre zum Schweigen gebrachte Stimme, ihre ausgelöschte Handlungsmacht in ein Narrativ zurückbrachte, das ohne sie so viel ärmer wäre. Gerade diese Neubewertung, die in den letzten Jahren einiges an Fahrt aufgenommen hat, etabliert Jordan selbstbewusst als „neue Designerin“, weil sie „Gebäude plant und die Freiheit plant“.[15] Es ist ein Schritt, der uns nicht nur dazu einlädt, die zahllosen anderen in der Geschichte der Designpädagogik fehlenden Protagonist*innen und Geschichten zu erforschen, sondern auch noch einmal gründlich darüber nachzudenken – und dazu haben wir die Autor*innen der Beiträge unseres Journals eingeladen –, wie genau die Gestalt des/der „neue*n Designer*in“, dieser neue „soziale Typus“, entstanden ist – und sich vorzustellen, was er oder sie heute verkörpern würde.

Catherine Nichols
ist Kunst- und Literaturwissenschaftlerin, Kuratorin und Autorin und lebt in Berlin. Seit Abschluss ihrer Doktorarbeit über Hans Magnus Enzensberger an der Universität von New South Wales im australischen Sydney 2001 kuratierte sie überall in Deutschland eine große Bandbreite kulturgeschichtlicher Ausstellungen mit Themen von der Reformation über die Leidenschaften und die Sonne bis zur Sexualität. Sie hat darüber hinaus viele monografische und thematische Kunstausstellungen organisiert, darunter „Beuys: We are the Revolution“, „The End of the 20th Century: The Best Is Yet to Come“ und „Das Kapital. Schuld – Territorium – Utopie“ für die Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof in Berlin (in Zusammenarbeit mit Eugen Blume) und „Jeder Mensch ist ein Künstler. Kosmopolitische Übungen mit Joseph Beuys“ (in Zusammenarbeit mit Isabelle Malz und Eugen Blume) im K20 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf. Von ihr stammen zahlreiche Publikationen über zeitgenössische Kunst, und sie hat viele Kataloge und Bücher herausgegeben, darunter Bruce Nauman: Ein Lesebuch, Black Mountain: An Interdisciplinary Experiment, 1933–1957 und Shine on Me: Wir und die Sonne. Sie war die künstlerische Direktorin von „beuys 2021“, einem einjährigen Programm, zu dem rund 30 kulturelle Events aus Anlass des 100. Geburtstags des Künstlers in Nordrhein-Westfalen, ein Onlineradiosender, ein Symposium und ein interdisziplinäres Labor gehörten, das radikale demokratische Formen der Kollektivität erforschte. Zuletzt kuratierte sie die Manifest 14 in Pristina – „it matters what worlds world worlds: how to tell stories otherwise“ – und arbeitet derzeit als Kuratorin der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin.