Issue number: 2
23 November 2022
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Alison J. Clarke

„Das Industriedesign unterscheidet sich von seinen Schwesterdisziplinen Architektur und Technik in einem grundlegenden Punkt: Es ist die einzige Beschäftigung, die sich innerhalb einer Generation von der Entdeckung zur Degeneration bewegt hat. Angehörige dieser Berufsgruppe haben ihre Integrität und ihr Verantwortungsbewusstsein verloren und sind zu Lieferanten von Trivialitäten, des Kitschigen und Schäbigen, zu Erfindern von Spielzeug für Erwachsene geworden.“ – Victor J. Papanek (1971)

 

In den frühen 1970er-Jahren kam ein bahnbrechendes Buch mit dem provokanten Titel Design für die reale Welt: Anleitungen für eine humane Ökologie und sozialen Wandel heraus und wurde zum Totem für das radikal neue Genre des sozial verantwortungsbewussten Designs. Auf seinen Seiten komprimierte das Buch ein Ersatzmanifest für eine Ära, die den Beginn eines postindustriellen Aufruhrs und Umweltdesasters erlebte. Seine prophetische Forderung, dass das Industriedesign, wie wir es kennen, zu existieren aufhören sollte, ist heute, in einer ungezügelten Wegwerfwelt, noch bedeutender als damals. Im Bücherregal von aktivistischen Designer*innen stand es gleich neben Rachel Carsons Warnung vor einer unmittelbar bevorstehenden Umweltkatastrophe, Der stumme Frühling (1962, dt. 1963), und Teresa Hayters Kritik an den Mechanismen des Neokolonialismus, Aid as Imperialism (1971). Es katapultierte seinen Autor, den Designer und Kritiker Victor Papanek, auf den Höhepunkt seiner Karriere als Agent Provocateur des Designs im späten 20. Jahrhundert.

Als eines der meistgelesenen und einflussreichsten Designbücher weltweit, das in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde und seit seiner Veröffentlichung in immer neuen Auflagen erschien, bekehrte Design für die reale Welt eine Generation durch seinen Weckruf zu einer neuen Designpolitik. Sein Erbe ist noch heute relevant und manifestierte sich in der Designanthropologie, in der Maker-Bewegung, im kritischen und inklusiven Design und in vielen weiteren Bereichen. Es nahm die Entwicklung des 21. Jahrhunderts zum Design als einem entlokalisierten, transdisziplinären Phänomen vorweg und löste mit seiner Polemik, die die unausgesprochene Rolle des Designs bei der Erhaltung sozialer Ungleichheit, Behindertenfeindlichkeit und Diskriminierung durch die kulturelle Homogenität einer „One-size-fits-all“-Mentalität kritisierte, Aufstände in den Designhochschulen aus. Stattdessen schlug es einen humanen Designansatz vor, der von einer anthropologischen Sensibilität für die lokalen Gegebenheiten, das Alltägliche und einem erweiterten Verständnis von den kulturellen Nuancen der Macht des Designs geprägt war, die soziale Inklusion zu stärken oder zu untergraben. Indem es die Rolle hinterfragte, die das Design als Urheber eines immer weiter wachsenden Produktangebots in einem Zeitalter des Überflusses einnimmt, war seine eigentliche Botschaft, dass das Design das Potenzial hat, ein wichtiger Akteur im sozialen Wandel zu sein statt ein Werkzeug der Stilisierung und Ästhetisierung und ein Motor für einen gesteigerten Konsum. Letzten Endes plädierte es für ein ganzheitliches Modell, in dem Design als untrennbar von den sozialen Beziehungen, Gebräuchen, Ritualen und Geschichten, in die es eingebettet ist, verstanden wird.

 

Dank zeitgemäßer sozialer Projekte Studierender und bis dahin kaum bekannter Designer*innen reichte der Einfluss des Buchs bald von Nordamerika und Europa bis in die Sowjetunion und den globalen Süden. Es löste eine Revolution in der Designpädagogik aus, weil es eine eindeutig anthropologische Methode in die Designpraxis einführte, die die rationale Marktlogik des Kapitalismus als Innovationsmotor infrage stellte. Bei diesem Ansatz ging es in erster Linie darum, dass die Nutzer*innen selbst im Mittelpunkt einer radikal neuen Designpraxis stehen sollten, die traditionelle und indigene Lösungen den technokratischen Ideologien der Moderne vorzog. Obwohl das Buch schon mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist, wird es bis heute in Designhochschulen überall auf der Welt als Manifest für den Wandel gelesen.

Designer*innen als Quasianthropolog*innen

1973 erschien die italienische Ausgabe von Papaneks Polemik unter dem Titel Progettare per il mondo reale: il design: come è e come potrebbe essere (Design für die reale Welt: wie es ist und wie es sein könnte). Im Januar desselben Jahres hatte das einflussreiche Designmagazin Casabella das radikale, ergebnisoffene, pädagogische Experiment Global Tools gestartet, an dem einige der führenden Persönlichkeiten des radikalen italienischen Designs und der Architektur teilnahmen, darunter Archizoom Associati, Riccardo Dalisi, Gaetano Pesce, Ugo La Pietra, Ettore Sottsass, Superstudio und U.F.O. Die Gruppe leitete eine explorative, multidisziplinäre, didaktische Workshopreihe, die eine alternative Designkultur hervorbringen sollte, frei vom Erbe der Ford’schen Industriebezüge und den konformistischen Traditionen der Designschulen. So wie Papaneks Buch auf das Versagen der zeitgenössischen Designausbildung einprügelte, weil sie ihren Schwerpunkt auf Profite und „Kunden“ legte statt auf die Beschäftigung mit sozialen Bedürfnissen, drehte es sich bei der Global-Tools-Initiative um eine „Antischule für Design“, die auf mehrere Standorte verteilt sein sollte. Maker sollten sich durch ihre Beschäftigung mit präindustriellen handwerksbasierten Genres wieder verzaubern lassen, und der sinnliche Designprozess selbst sollte zu einer politischen Strategie werden.

 

Am wichtigsten war aber, dass Design für die reale Welt und die Global Tools beide auf der Agenda hatten, den sozialen Zweck des Designs über die Moderne hinaus zu bestätigen und vehemente Kritik an deren spätindustrieller Rolle bei der Förderung der weit verbreiteten Entfremdung und der Zerstörung lokaler Ressourcen sowie indigenen Wissens, Kulturen und Fertigkeiten übten. Während Papaneks Beispiele für Autochthones vor allem aus „Entwicklungsländern“ und -gemeinschaften stammten (darunter Grönland und Indonesien, dort vor allem Bali), wandten sich die Mitglieder des Global-Tools-Kollektivs den erodierenden Bauernkulturen Italiens zu, vor allem in der Toskana. Sowohl Papanek als auch das radikale italienische Kollektiv sprachen sich für multidisziplinäre, experimentelle und nicht hierarchische Pädagogikmodelle sowie die Demontage der zeitgenössischen Designkonventionen zugunsten einer alternativen Wertewirtschaft aus. Mit einer Rhetorik, die auch bei Designern des 21. Jahrhunderts einen Nerv trifft, stellten sie sich eine dezentrale „Maker-Kultur“ vor, die aus der Asche des postindustriellen, krisengeschüttelten Spätkapitalismus auferstehen und lokale Gruppen, Einzelpersonen und die Gesellschaft ermächtigen sollte. Franco Raggi, ein Global-Tools-Mitglied der ersten Stunde, beschrieb das Projekt so: „Im Gegensatz zur etablierten und akzeptierten Praxis des technischen, bequemen, nützlichen und funktionalen Designs, ist es unsere Absicht, eine nomadische Vorgehensweise für ein archaisches, dysfunktionales Design zu postulieren.“[1] Anthropologisch inspirierte Ideen zu materieller Kultur und ritueller Bedeutung sowie ein Schwerpunkt auf Nutzer*innen und Co-Design untermauerten die neu entwickelten Designphilosophien.

Das potente Objekt

Ein prominenter Prototyp, der aus dieser neuen Designpolitik entstand, steht beispielhaft für die Widersprüche in einer Bewegung, die Design für gesellschaftlich sinnvolle Zwecke anwenden und sich dabei von neokolonialen Interventionen distanzieren wollte.

Das batterielose Tin Can Radio (für die UNESCO von Victor Papanek und seinem Studenten George Seeger entworfen) wurde mit getrocknetem Tierdung betrieben und aus Abfallprodukten hergestellt. Es war für die Verbreitung in isoliert lebenden Gemeinschaften mit hoher Analphabetenrate bestimmt. Es war gut sichtbar auf dem Schutzumschlag der ersten Ausgabe von Design für die reale Welt mit werbenden Worten der finnischen Designerin Barbro Kulvik-Siltavuori abgebildet, die die Kritik vorwegnehmen sollten, die das Design hervorrufen würde: „Heute wird sehr über Designverantwortung gestritten. Manche denken, [Papanek] sei zu politisch, andere finden, er sei nicht politisch genug. Manche denken, er ermutige zu neokolonialer Ausbeutung, andere, dass er die weiße Rasse verrät.“

Während die radikalen italienischen Designer*innen ähnliche Ziele verfolgten wie die „Reale-Welt“-Agenda vom sozial verantwortungsvollen Design, entfesselte die italienische Ausgabe von Design für die reale Welt eine wütende Attacke auf die gesamte Grundannahme des Buchs. Auf den Seiten von Casabella, dem hoch angesehenen italienischen Designmagazin (und Sprachrohr der Initiator*innen von Global Tools) tadelte der Designtheoretiker Gui Bonsiepe (ein Absolvent der Ulmer Hochschule für Gestaltung) Papanek für dessen naive und neokoloniale Herangehensweise beim sozial verantwortungsvollen Design. Bonsiepe verurteilte die Versuche des sozialen Designers, die Ungleichheit durch Design zu beheben, als den „blassen Kreuzzug eines Kleinbürgers“ und kritisierte, „dass die Organisation des Verhältnisses zwischen Produktion und der Rolle der Produktionskräfte, vor allem der Arbeiterklasse, nie zur Sprache kommt“. Im Hinblick auf den gefeierten Entwurf des Tin Can Radio für die „Dritte Welt“, vermutete die missbilligende Kritik, dass der Designer Teil einer größeren Verschwörung sei und heimlich für das US-Militär arbeite: „Das Radio stellt ein Werkzeug der ideologischen Durchdringung und Kontrolle dar, und was die Entwicklung dieses Projekts vorangetrieben hat, wurde nun in nichts weniger als ein Werkzeug der UNESCO-Protzerei verwandelt.“ Bonsiepe schlug den letzten Nagel in den Sarg von Papaneks radikalem, sozial verantwortungsvollem Design, als er spitz kommentierte: „Vielleicht hat der Autor während seines Aufenthalts in den USA und seinen Attacken gegen das Design-,Establishment‘ gedacht, er fände in militärischen Kreisen Verbündete, ein taktischer und strategisch desaströser Irrtum.“

Social Design: Unzufriedenheit und das Erbe

Die Experimente und Initiativen des Social Design in den frühen 1970er-Jahren, die keine der Kennzeichen rein kommerzieller Motive trugen, steckten voller Widersprüche, von denen man sagen könnte, dass sie auch auf das heutige sozial verantwortungsvolle Design zutreffen.

 

Und dennoch bleiben viele Aspekte der ursprünglichen Social-Design-Agenda wichtig: die Beschäftigung mit indigenem Design, die kritische Bewertung der Rolle, die Designer*innen bei der Beschleunigung (oder Verringerung) des globalen Klimawandels spielen, und die drängende Frage, welche Form die sozioökologische Verantwortung des Designs annehmen könnte. Darüber hinaus bleibt das Design, wie es auf dem Höhepunkt der radikalen Politik behauptet wurde, eine Kraft, die ebenso gut Schaden anrichten wie auch beheben kann. Sollten Designer*innen, deren Aufgabe es ist, unsere materielle und immaterielle Existenz zu gestalten, für die größeren humanitären Ziele verantwortlich gemacht werden, oder müssen sie nur den Launen ihrer technoideologischen Zahlmeister*innen folgen? Wie weit reicht ihre Verantwortung für die langfristigen Auswirkungen ihrer Arbeit, sei es ein autonomes Fahrzeug oder eine Wegwerfwindel? Obwohl die globale Anwendung eines Großteils des heutigen sozialen Designs umstritten ist, wäre das Design ohne die neue politische Agenda der frühen 1970er-Jahre eine unkritische, rationalisierte, problemlösungsorientierte und homogene Praxis geblieben – eine, die nur Minderheiteninteressen dient.

Alison J. Clarke
ist Professorin für Designgeschichte und -theorie und Direktor der Papanek-Stiftung an der Universität für angewandte Kunst Wien. Die ausgebildete Sozialanthropologin (University College London) und Designhistorikerin (V&A/Royal College of Art, London) hält international Vorträge und ist Autorin zahlreicher Publikationen, die sich mit der Politik von Design und materieller Kultur befassen. Ihre jüngste Monografie, Victor Papanek: Designer for the Real World (MIT Press 2021), befasst sich mit der kontroversen Geschichte der Social-Design-Bewegung.