Wir befinden uns alle in einer großen Unterhaltung – Design als Plurivokalität
Liebe Lesley-Ann, ich hatte immer schon vor, diese Diskussion mit einem Zitat des legendären Designers und DJ Virgil Abloh zu beginnen, der Designpädagogik und -praxis als von vornherein plurivokal auffasste. Er stellte sich alle Menschen so vor, als seien sie in einer einzigen großen Unterhaltung. Als ich heute Morgen durch die Artikel in der App von The Guardian scrollte, stolperte ich aber glücklicherweise über einen Text von Zadie Smith über die Wiederveröffentlichung von Gretchen Gerzinas bahnbrechendem Geschichtsband Black England: A Forgotten Georgian History, für den Smith das Vorwort geschrieben hat.
Smith, eine bekannte Romanschriftstellerin, Essayistin und Professorin für Creative Writing, weist darauf hin, dass Gerzinas wichtiges Buch die Auslöschung der schwarzen Menschen und ihrer Leistungen aus der britischen Geschichte hervorhebt und beseitigt. Als sie die Studie in den 1990er-Jahren zum ersten Mal las, beeinflusste das ihr Selbstverständnis und ihre Entwicklung als Schriftstellerin zutiefst.
Eigentlich habe ich fast noch geschlafen, als ich den Artikel heute Morgen gelesen habe, aber als ich am Ende ankam, war ich hellwach – denn der Inhalt passt so gut zu den Grundsätzen vieler unserer Projekte und den Fragen, über die ich mit dir sprechen möchte.
Tatsächlich bringt der Artikel etwas auf den Punkt, was du und deine Kolleg*innen so deutlich in The Black Experience in Design: Identity, Expression and Reflection (2022) hervorheben, dass nämlich die weiße Vorherrschaft in der Bildung verarmte, verdrehte Narrative hervorbringt, die die Geschichte verzerren und letztlich die Kreativität ersticken. Die „große Unterhaltung“, von der Abloh spricht, wird abgebrochen, oder zumindest kann sie nicht aufblühen.
Wie entstand The Black Experience in Design, ein Projekt, das die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Designbildung neu bewerten und sich neu vorstellen will?
Ich bin eine von sechs Herausgeber*innen von The Black Experience in Design. Die anderen sind Anne H. Berry, Kelly Walters, Jennifer Rittner, Kareem Collie und Penny Acayo Laker. Konzipiert hat das Projekt Anne H. Berry. Ich glaube, es war Kareem, der mich angerufen und gefragt hat, ob ich Interesse hätte mitzumachen. Als wir uns alle trafen, veranstalteten wir ein Brainstorming darüber, wie wir als Designlehrende auf das Interesse am Schwarzsein im Design reagieren sollten. Anne und ein paar der anderen wollten das Buch schreiben, nach dem sie sich schon seit dem Studium sehnten. Ich hatte genug von Fragen wie „Wo sind all die schwarzen Designer*innen?“ und freute mich darauf, einen Raum zu schaffen, in dem wir derartige Themen kritisch hinterfragen und zeigen konnten, dass es schwarze Designer*innen gibt. Dass sie ihre eigenen Geschichten erzählen können und Außergewöhnliches leisten. Ich persönlich fand die Frage sehr auf die Weißen ausgerichtet. Es gibt schwarze Menschen, die Designer*innen sind, aber ich hatte das Gefühl, dass die Menschen, die diese Frage stellen, faul sind und einfach nicht an den richtigen Stellen suchen. Wir sprachen über mehrere unterschiedliche Formate. Wir zogen ernsthaft eine Sonderausgabe für ein akademisches Journal in Betracht, aber wir erkannten schnell, dass wir dafür zu viele Leute zur Mitarbeit einladen wollten und in ein Journal nur sechs bis acht Essays passen würden. So entstand daraus die Idee für ein Buch. Eine*r der Herausgeber*innen kannte Steven Heller, der sich großzügigerweise mit uns getroffen und die Idee mit uns durchgesprochen hat. Wir stellten ein paar Listen mit Leuten zusammen, die wir in einem „Lehrbuch“ über schwarzes Design präsentieren wollten, und wir dachten über mehrere verschiedene Formate nach. Wir hatten einige Richtlinien für die Präsentation einer ganzen Reihe von Designdisziplinen, Identitäten sowie der authentischen Stimmen der Autor*innen und boten den Autor*innen viele unterschiedliche Möglichkeiten der Mitarbeit, von Gedichten bis zu Essays, von Bildern bis zu Gesprächen und vieles mehr.
Deine ganze akademische Karriere hindurch hast du intensiv daran gearbeitet, Designpraktiken und -geschichten häufiger zum Gesprächsthema zu machen und eine Vielzahl von Stimmen und Perspektiven einzubeziehen, die von außerhalb der „dominanten“ Designkultur kommen. Ich denke dabei insbesondere an deine Erfahrung als Initiatorin der Pluriversal Design Special Interest Group der Design Research Society (Pluriverse Designinteressenvertretung der Designforschungsgesellschaft; PluriSIG). Inwieweit ist da deine frühere Forschung in The Black Experience in Design eingeflossen oder hat dich vielleicht auf die Ergebnisse des Buchs vorbereitet?
Meine Forschungen und die Arbeit mit der Pluriversal Design Special Interest Group hatten einen enormen Einfluss auf mein Vorgehen innerhalb dieses Projekts. Als ich begann, war ich Professor of Practice an der Tulane University in New Orleans, und wir hatten zwei Jahre lang an dem Podcast Hello from the Pluriverse (Grüße aus dem Pluriversum) gearbeitet, für den Studierende Designer*innen überall in der Welt interviewten. Der Podcast diente einem der PluriSIG-Ziele, ein Licht auf die große Diversität in der Designpraxis überall auf der Welt zu werfen. The Black Experience in Design wurde zudem nach der Pivot-2020-Konferenz veröffentlicht, auf der viel über die Verschiebung von Zentren, Methoden, Epistemologien und Ontologien im Design gesprochen wurde. Was ich bzw. wir aus dem Podcast und der Konferenz lernten, waren Strategien, mit denen wir Menschen dabei unterstützen konnten, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und sicherzustellen, dass diese Geschichten in traditionellen akademischen Formaten zugänglich waren. In beiden Projekten schufen wir viele unterschiedliche Möglichkeiten der Beteiligung, etwa Interviews führen und aufnehmen, die dann heruntergeladen und als Transkripte veröffentlicht werden oder zu Essays verarbeitet werden konnten. Als ich zum Team von The Black Experience in Design stieß, wusste ich bereits, dass wir über die traditionellen, akademischen Publikationshindernisse hinausgehen konnten, um dafür zu sorgen, dass sich viele Stimmen an der Arbeit beteiligen würden. Ich würde sagen, dass meine bis dahin ausgeübte Arbeit mich auf den Prozess vorbereitet hat, mehr als auf das Ergebnis. Ich nutzte die Strategien, die ich bei meiner früheren Forschung gelernt hatte, für meine Rolle als Herausgeberin und leitete Autor*innengruppen, gab Schreibanstöße, interviewte die, die keine Zeit zum Schreiben hatten, war Ghostwriterin einiger Artikel auf der Grundlage der Interviews und so weiter. Ich würde sagen, das ist zum Teil der Grund, warum wir so viele Geschichten sammeln konnten. Es gab so viele Möglichkeiten, an diesem Projekt mitzuarbeiten.
Im Mittelpunkt meiner Forschung und der dazugehörigen Forschungsmethoden stehen oft Emanzipation und Befreiung. Ich bin mit dem Ergebnis der Arbeit sehr zufrieden, denn dies ist ein Buch über schwarze Kreative, in dem fast 70 schwarze Designer*innen ihre Geschichte erzählen. Es ist ein emanzipierendes, befreiendes „Für uns, von uns“-Projekt. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich an der Verwirklichung mitwirken konnte.
Gab es in der Anthologie Stimmen, die dich überrascht haben?
Es gibt in diesem Werk so viele Stimmen, dass es schwierig ist herauszupicken, was mich überrascht hat. Die Stimmen in der Anthologie haben bei mir eine ganze Reihe von Gefühlen ausgelöst. „Überrascht“ beschreibt es also ganz gut, aber weil mir die Themen in manchen der Geschichten so vertraut waren, fühlte ich mich auch gesehen und bestätigt. Der ghanaisch-südafrikanische Professor Nii Commey Botchway ließ mich darüber nachdenken, was Schwarzsein bedeutet und was Design. Steve Jones’ Essay berührt unmittelbar die Erfahrungen, die schwarze Studierende an vorwiegend weißen Institutionen machen, an denen ein*e Professor*in manchmal unabsichtlich eine Aufgabe stellt, die Schwarze ausschließt. Kaleena Sales berichtet darüber, was es bedeutet, eine schwarze Designlehrerin für vorwiegend schwarze Studierende an einer traditionell schwarzen Universität zu sein. Das ist kein Privileg, das vielen schwarzen Designer*innen in Ländern, in denen sie zu einer Minderheit gehören, zuteilwird. Es war sehr ergreifend zu erfahren, wie sie darum gerungen hat, die Studierenden so zu unterrichten, dass sie in eine weiße Welt passten. Lauren Williams’ Manifest für schwarze Frauen im Universitätsbetrieb hat mir sehr gut gefallen, wahrscheinlich weil ich nur allzu gut wusste, worüber sie spricht. Ich hatte das Privileg, ein 17-minütiges Gespräch mit adrienne maree brown zu führen, das dann zu einem Beitrag für uns führte. Sie gibt schwarzen Designer*innen ausgezeichnete Ratschläge, so sollen sie zum Designen in sich hineinhören, an die Sklavenbefreiung denken oder Audre Lorde lesen! Ich liebe den Schluss ihres Texts: „Habt eine wirklich massive Vision! Denn ich glaube, das hier ist unsere Zeit!“ Müsste ich einen Essay empfehlen, den die Menschen lesen sollen, dann wäre es der von brown, denn er ist so voller Hoffnung. Aber es ist schwer, nur einen zu empfehlen.
In dem Buch behauptet Maurice Cherry – Schöpfer, Produzent und Gastgeber der bahnbrechenden Podcast-Serie Revision Path über schwarze Designer*innen –, dass es „schon ein Akt der Rebellion ist, sich als schwarze*n Designer*in zu feiern“. Eine solche „Rebellion“ ist entscheidend, wenn die Designausbildung wirklich sozial werden soll. Dennoch reicht der Wirkungsbereich des Buchs weit über die Feier der schwarzen Designer*innen und Geschichten des Widerstands hinaus. Tatsächlich erkundet es zugleich innovative Methoden und Modelle für die Designlehre und -forschung. Und es entwirft ein neues Bild von Lerninstitutionen als nicht feindlich gesinnte, befreiende Räume. Auf welchen historischen Ansätzen sollen solche neuen Methoden aufbauen?
Das ist eine schwierige Frage. Es gibt einige Autor*innen, die sich in ihrer Arbeit absichtlich stärker der Geschichte zuwenden, etwa David Pilgrim, der historische Objekte benutzt, um soziale Gerechtigkeit zu unterrichten. Colette Gaiter erzählt ihre Geschichte und greift dabei auf Bilder aus der Vergangenheit zurück, vor allem auf die 1960er- und 70er-Jahre. Alicia Ajayi schreibt über das Design der „free papers“, Artefakte, die die freie Durchreise ehemaliger Sklav*innen garantierten.
Die Geschichte der Disziplin kann vielen schwarzen Designer*innen ausschließend erscheinen. Die neuen Methoden, die diese Designer*innen oder Lehrenden vorschlagen, bauen nicht notwendigerweise auf einem historischen Ansatz auf (wenn ich die Frage richtig verstehe). Diejenigen mit einer formalen Ausbildung bauen vielleicht instinktiv auf ihrer Ausbildung auf, reagieren vielleicht auch auf sie und lehnen sie ab, weil sie Lücken in den historischen Designansätzen erkennen. Als Außenseiter*innen oder Menschen, die ausgeschlossen werden, können diese Designer*innen und Lehrenden genau erkennen, was für sie erforderlich ist, um zu wachsen und dann neue Methoden vorzuschlagen, um diese Lücken zu schließen.
Einige der neuen Methoden werden von Menschen vorgeschlagen, die nicht nur eine formale Designausbildung haben, sondern auch in der Welt des Designs arbeiten. Sie beziehen sich auf eigene Erfahrungen, auf Ansätze aus anderen Disziplinen, ihre gesellschaftlichen Erfahrungen mit Gemeinschaft, Zusammenarbeit, Recherche und anderem mehr. Chris Rudd stellt einen Lehrplan aus seinem Seminar vor. In seinem Essay spricht er darüber, wie Bauhaustraditionen durch die Verknüpfung mit indigenen Praktiken verkompliziert werden. Auf seiner Leseliste finden sich Texte über Ethnie, Klasse, Feminismus und Politik, und er tritt für einen kritischeren Blick im Design ein.
Spekulative Narrative, seien sie historisch oder futuristisch, spielen bei der Entwicklung emanzipatorischer Bildungsräume auch eine wichtige Rolle …
Ich habe insbesondere den Abschnitt über Futurismus lektoriert, aber ich glaube, dass die Überzeugung, dass wir etwas Besseres verdienen und wir selbst dafür sorgen können, dass es besser wird (niemand sonst wird uns retten), die Entwicklung neuer emanzipatorischer Ansätze und Räume vorantreibt. Was mich 2020 wirklich gestört hat, war die Art, wie Fragen wie „Wo sind die schwarzen Designer*innen, und wie können wir ihnen helfen?“ gestellt wurden. Was ich an den Berichten in Kapitel 8 wirklich liebe, sind die Geschichten über Trotz und Wirkmächtigkeit. Es sind inspirierende Geschichten darüber, wie Menschen ihren eigenen Arbeitsbereich starteten, etwa Maurice Cherrys Podcast Revision Path, Molines Facebookgruppe und Internetplattform für afroamerikanisches Grafikdesign und Malene Barnetts Black Artists and Designers Guild (Gilde der schwarzen Künstler*innen und Designer*innen). Einige der Essays im Abschnitt Futurismus hätten ebenso gut in den Bereichen über Radikalität oder Befreiung stehen können, denn die Autor*innen wie Lonny Brooks, Woodrow Winchester III, Adah Parris und John Jennings nutzen in Wahrheit den Futurismus, um ihre Arbeit weiterzuentwickeln und sich für sich selbst und andere neue Räume und Praktiken vorzustellen.
Ein konkretes Ergebnis deiner Recherche war das „Designer’s Critical Alphabet“, ein Satz Karten und eine digitale App, die du 2019 geschaffen hast. Du hast die Karten als ein Werkzeug beschrieben, das bei der Ausbildung von Designstudierenden, Lehrenden, Forscher*innen und Praktiker*innen helfen soll, das kritische Bewusstsein für Designgeschichten, -pädagogiken und -praktiken zu schärfen sowie über Diversität und Inklusion nachzudenken.
Kannst du mir bitte etwas über das Projekt erzählen und darüber, wie die Welt von heute insgesamt davon profitieren könnte, exklusive Epistemologien und Methoden zu verlernen? Welchen Gewinn können Menschen und übermenschliche Wesen aus Pädagogiken ziehen, die zugleich plurivokal und pluriversal sind?
Oh je, du fragst schwierige Sachen. Das Ziel des „Designer’s Critical Alphabet“ und des Nachfolgers, des „Good Vibes Deck“, ist es, die Menschen zu mehr Fragen zu ermutigen. Ich sage immer: „Stell alles infrage! Nichts ist heilig!“ Daher finden sich in diesem Tool einführende kritische Fragen. Das sollen nicht die einzigen kritischen Fragen sein, die die Leute stellen müssen, aber das Set kann die Menschen ermutigen und daran erinnern zu fragen und über Fragen von Ethnie, Gender, Sprache, Politik und sogar ihre eigene Persönlichkeit und Eigenwahrnehmung in ihrer Arbeit als Designer*innen nachzudenken. Hoffentlich bewirken die Karten, dass da, wo Druck herrscht und alles flacher und einfacher sein soll, das Alphabet die Leute ermutigt, es komplizierter zu machen, die Unannehmlichkeiten auszuhalten, die Komplexität mit sich bringen kann, und sie zugunsten eines tieferen Verständnisses des Problembereichs zu nutzen, auf den sie sich gerade konzentrieren. Was können wir alle aus pluriversalen Pädagogiken gewinnen? Auf einem „Wohlfühllevel“ ist es ein Gewinn, dass wir aus den vielen Perspektiven lernen können, aus denen die Menschen auf ein Thema blicken. Das bloße Wissen, dass unsere Position nicht die einzige ist und vielleicht noch nicht einmal die richtige, lässt uns Fragen anders stellen, offener und bescheidener. Auf einer praktischeren Ebene kann diese Bescheidenheit zu einer größeren Zusammenarbeit über Unterschiede hinweg führen.