Wörter und Welten – Die Poesie des Designs zwischen Brasilien und Deutschland
Zu den ersten Kontakten kam es vor allem bei den Biennalen in São Paulo, Ausstellungen des Kunstmuseums São Paulo (Masp) und des ihm angeschlossenen Instituts für moderne Kunst (IAC), das als erste Designschule Brasiliens gilt. 1953, genau zu der Zeit, als die HfG Ulm eröffnet wurde, war Max Bill bei der zweiten Biennale in São Paulo[1] Mitglied der Jury und stellte eine Verbindung zwischen brasilianischen Künstler*innen und Ulm und seinen Idealen her. Von 1953 bis 1956 studierten sechs brasilianische Künstler*innen, darunter Almir Mavigner, Mary Vieira, Alexandre Wollner and Yedda Pitanguy[2], in Ulm und waren entscheidend an mehreren Verbindungen beteiligt, die zwischen den beiden Ländern entstanden.
In der Zwischenzeit wurde in den 1950er-Jahren unter Beteiligung von Max Bill über die Möglichkeit diskutiert, am Museu de Arte Moderna do Rio de Janeiro (Mam-RJ, Museum für moderne Kunst in Rio de Janeiro) eine Designschule einzurichten. Das Curriculum dafür sollte Tomás Maldonado entwerfen. Obwohl die Escola Técnica de Criação (ETC, Technische Schule für Gestaltung) nie realisiert wurde, fanden doch Kurse und Vorlesungen am Mam-RJ statt, darunter auch ein Kurs über visuelle Kommunikation, den Maldonado und Otl Aicher gemeinsam unterrichteten.
In den frühen 1960er-Jahren wurde in Rio de Janeiro die ESDI gegründet, und ihr erstes Curriculum bezog sich auf Maldonados Pläne für die ETC-Mam und übernahm den wissenschaftlichen Ansatz, der in Ulm vorherrschte. Alexandre Wollner und Karl Heinz Bergmiller, die in Ulm studiert hatten, gehörten zu ihren Gründer*innen. Der deutsche Theoretiker und HfG-Professor Max Bense gab ebenfalls mehrere Kurse an der ESDI, wo der Dichter der konkreten Poesie, Décio Pignatari, Professor für Informationstheorie war.
In diesen Austauschen lässt sich ein ständiges Interesse an der Erforschung nichtdiskursiver Sprachen verfolgen, bei denen die konkrete Kunst einen grundlegenden Aspekt bildet. Zugleich erscheint sie als erste Schnittstelle zwischen brasilianischen und deutschen Künstler*innen in den 1950er-Jahren. Auf der Grundlage eines selbstreferenziellen Vokabulars für eine rein plastische Materialität (Linien, Flächen und Farben) war die konkrete Kunst keine Darstellung einer Realität jenseits der Leinwand mehr, sondern wurde zur Repräsentation ihrer eigenen strukturellen Instrumentierung. Für ihre Vertreter*innen waren die wesentlichen Aspekte der bildenden Kunst Materie, Raumzeit und Bewegung. Kunst wurde als eine Art des Wissens betrachtet und das Kunstwerk als autonomes Objekt. Die Bewegung machte sich für eine universelle Kunst stark, die durch die Suche nach einer kollektiven Bedeutung und die Zusammenarbeit mit der Industrie und den Massenmedien die Sphäre des Alltags erreichen und dann Kunst und Leben vereinen würde. Darum spielte Design in diesem Kunstkonzept eine fundamentale und unverzichtbare Rolle.
Wie konkrete Kunst und Design basierte die konkrete Dichtung auf der Wiederaufnahme eines konstruktiven Korpus, der sich um die europäische Avantgarde drehte, vor allem die Bewegung De Stijl und das Bauhaus[3], und der enge Beziehungen zu zeitgenössischen Experimenten in anderen Bereichen wie Musik, Malerei, Architektur und Design knüpfte. Diese Tradition findet ihren Ausdruck in den Texten der Dichter*innen, in denen strukturelle und materialistische Gedankengänge und die Verteidigung der Nutzung der Massenkommunikationsmittel zu finden sind.
1952 gründeten Décio Pignatari und die Brüder Augusto und Haroldo de Campos in Brasilien die Gruppe Noigandres[4] und verkündeten das Ende der historischen Epoche des Verses. Stattdessen erkundeten sie den konkreten, grafischen Raum der Seite als poetische Praxis.
1953 lernte Décio Pignatari bei einem Besuch der brasilianischen Studierenden an der HfG Ulm den bolivianisch-schweizerischen Dichter Eugen Gomringer kennen, der zu dieser Zeit Max Bills Sekretär war. Für Gomringer und die brasilianischen Dichter*innen sollte Poesie aus der einfachsten Struktur bestehen, die aus der Beziehung der Worte zueinander bestand und nicht aus ihrer diskursiven Gegenüberstellung. Ersteres nannten sie „Konstellation“[5] und Letzteres „Ideogramm“[6].
Das Wort in seinen drei Dimensionen – räumlich-grafisch, akustisch/oral und semantisch – wurde als autonomes „Ding-Wort“ betrachtet und die Poesie in ein „verbivocovisuelles“[7] System verwandelt, das als spezifischer linguistischer Bereich definiert ist, der die Vorteile der Simultaneität von verbaler und nonverbaler Kommunikation nutzte.
Darüber hinaus wurde das Ding-Wort als ein lebender Organismus oder ein lebendiges System betrachtet: „Der konkrete Dichter sieht das Wort selbst als dynamisches Objekt, eine lebende Zelle, einen vollständigen Organismus mit psycho-physisch-chemischen Eigenschaften, taktilen Antennen und einem funktionierenden Herzen: lebendig.“[8]
Die Kooperation zwischen Décio Pignatari and Eugen Gomringer entwickelte sich auf mehrere Arten. Eine davon war das Zusammentreffen der brasilianischen konkreten Dichter*innen mit dem HfG-Professor Max Bense, der mit seiner Kollegin, der Semiotikerin und Publizistin Elisabeth Walther[9], mehrere Ausstellungen und Publikationen über Dichtung, Kunst und Design Brasiliens in Stuttgart organisieren sollte. Er schrieb über seine engen Verbindungen und seine fünf Besuche Brasiliens auch einen Reisebericht, Brasilianische Intelligenz: Eine cartesianische Reflexion.[10]
Bense, dessen Arbeit sich auf die Beziehung zwischen Ästhetik und Technik konzentrierte, entwickelte eine rationale Ästhetik, die die Komponenten des Textes, seien es Gebrauchs- oder literarische Texte, als Repertoire einer statistischen Sprache definierte, die anhand von Informationsmessungen anstelle von Semantik aufgebaut war.
Eine Annäherung zwischen Benses Designtheorie und der der brasilianischen konkreten Dichter*innen wird in den Abläufen deutlich, die Bense in dem experimentellen Curriculum für den Fachbereich Information an der HfG Ulm vorgeschlagen hat:
- „Verwandlung von natürlichen Sprachen und Kunstsprachen in Präzisionssprachen …
- Versuche über Rastertechniken, Raffertechniken und Montagetechniken …
- Formenkonzentration und -dispersion, Themenkonzentration und -dispersion …
- Versuche über syntaktische und semantische Kurzformen, Verdichtungen, Entstellungen, Dehnungen, Verfremdungen …
- Versuche über akzidentielle und attributive Beschreibungen, phänomenologische Reduktionen und Bedeutungsentleerungen“[11]
Bense fand, das Wort solle nicht als Träger einer absichtlichen Bedeutung verwendet werden, sondern als Element eines materiellen Designs, sodass Bedeutung und Gestaltung sich gegenseitig bedingten und ausdrückten.[12] Ebenso war für die brasilianischen konkreten Dichter*innen das Wort ein rein objektives Ding, frei von allem Überflüssigen und von Ungenauigkeiten. Das Gedicht galt dabei als experimentelle Suche nach Klarheit und Integrität der Sprache. Die Dichter*innen strebten danach, eine ökonomische Struktur zu erschaffen, analog zur Geschwindigkeit moderner Kommunikation und Technik. Sie sagten die Reintegration des Gedichts in den Alltag voraus – ähnlich dem Ansatz des Bauhauses bei den bildenden Künsten – entweder als Träger kommerzieller Werbung oder als Objekt reinen Vergnügens. In jedem Fall war es das Ziel, das Wort in einem grundlegenden Sinn so zu behandeln, als hörte man es zum ersten Mal.
Auf der Suche nach einer nichtdiskursiven Sprache eröffnete die Dichtung die Möglichkeit einer „Sprache als Design“: „Unser Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Planung, des Designs und der Designer: industrielles Design und Architektur werden studiert und als Botschaften und Sprachen entworfen; Schriftsteller, Dichter, Journalisten, Werbefachleute, Musiker, Fotografen, Filmemacher, Radio- und Fernsehproduzenten und Bildhauer nehmen allmählich die Designer wahr, die Erfinder neuer Sprachen.“[13]