Die 1962 in Rio de Janeiro gegründete Schule war in ihrer wechselvollen Geschichte stets von dem Spannungsverhältnis zwischen zwei antagonistischen Vorstellungen von Design geprägt: dem vor allem an der Hochschule für Gestaltung (HfG) Ulm propagierten Verständnis von Gestaltung als wissenschaftlicher Praxis und dem in den Avantgardeströmungen Brasiliens der 1960er-Jahre vorherrschenden Interesse an Erkenntnisformen jenseits bloßer Rationalität, verbunden mit einer Hinwendung zu lokalen Handwerkstraditionen.

Hervorgegangen war die Schule aus Plänen zur Entwicklung einer Bildungseinrichtung in Verbindung mit dem Museo de Arte Moderna (MAM). Ein erstes Curriculum für diese zunächst noch Escola Técnica de Criação (Technische Schule für Gestaltung; ETC) genannte Institution wurde ab 1953 durch Niomar Moniz Sodré Bittencourt, Gründungsdirektorin des MAM, in enger Zusammenarbeit mit Max Bill, Gründungsdirektor der HfG Ulm, und dessen Nachfolger Tomás Maldonado entwickelt. Auf Empfehlung Max Bills wurden 1960 der brasilianische Grafikdesigner Alexandre Wollner und der deutsche Produktdesigner Karl-Heinz Bergmiller, beide Absolventen der HfG Ulm, mit der Weiterentwicklung des Projekts betraut. Unter ihrer Leitung erfolgte 1962 die Einrichtung und Eröffnung der nun als Escola Superior de Desenho Industrial (ESDI, Hochschule für Industriedesign) bezeichneten Schule auf einem ehemaligen Militärgelände im Stadtzentrum von Rio de Janeiro, wo sie bis heute verortet ist.

ESDI ist die erste Hochschule in Südamerika, die eine Ausbildung in Industriedesign anbietet. Das pädagogische Programm der Schule wird stark durch den aus Ulm übernommenen technischen Formalismus geprägt, bietet aber auch Raum für eine Vielzahl eigenständiger Ansätze: Lehrende wie der Grafikdesigner Aloísio Magalhães, die Malerin Renina Katz oder der Lyriker Decio Pignatari erarbeiteten sich aus ihrer jeweiligen Perspektive eigene Zugänge zum Ulmer Erbe und verschafften der Schule so ein spezifisch brasilianisches Profil. Diese besondere Ausrichtung erlaubte es der Schule, insbesondere unter der Ägide der langjährigen Direktorin Carmen Portinho, auch im schwierigen Fahrwasser zwischen Militärdiktatur und Modernisierungsagenda erfolgreich zu navigieren: 1970 beschloss das brasilianische Bildungsministerium, das pädagogische Programm der ESDI zur Grundlage aller im Land einzurichtenden gestalterischen Ausbildungsgänge zu machen; 1975 wurde die Schule Teil der Universidade do Estado do Rio de Janeiro (UERJ).

Angesichts eklatanter Mittelkürzungen und eines zusehends erratischen Hochschulmanagements formierte sich 2016 unter der Parole „ESDI Aberta“ eine gemeinsame Protestbewegung von Studierenden und Lehrenden. Der Campus im Stadtzentrum wurde besetzt, statt der regulären Lehre gab es ein solidarisches, kollektiv entwickeltes Krisencurriculum. Nach der geforderten Reform der Lehrpläne sowie der Sicherung der Weiterfinanzierung endete der Streik 2018.

Zoy Anastassakis (* 1974) ist eine brasilianische Designerin und Anthropologin. Von 2016 bis 2018 war sie Direktorin der Escola Superior de Desenho Industrial der Universidade do Estado do Rio de Janeiro (ESDI/UERJ), wo sie als außerordentliche Professorin arbeitet. An der ESDI koordiniert sie das Laboratório de Design e Antropologia. Zusammen mit Marcos Martins schrieb sie ein Buch über die Experimente der ESDI von 2016 bis 2018, das in der Serie „Design in Dark Times“ bei Bloomsbury erschien.

Marcos Martins ist Designer und außerordentlicher Professor an der Escola Superior de Desenho Industrial (ESDI) in Rio de Janeiro, die er 2016 bis 2018 als stellvertretender Direktor leitete. Nach der Promotion untersuchte er an der Princeton University mithilfe einer historisch-kritischen Analyse das Interface-Design von sozialen Medien. Mit Zoy Anastassakis verfasste er in der Serie „Design in Dark Times“ von Bloomsbury ein Buch über die Zeit der Krisen und Experimente, als sie die ESDI leiteten.

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