Im Januar 1928 setzte die chilenische Regierung eine Bildungsreform in Kraft, die auf den Theorien der escuela activa (aktive Schule) beruhte.[1] Im Zuge dieser Reform und der Neuerungen, die Professor Carlos Isamitt einführte, wurde die Akademie der schönen Künste dem Zuständigkeitsbereich des Bildungsministeriums zugeordnet.[2] Isamitts Lehrmethode war am Vorkurs oder der Vorlehre des Staatlichen Bauhauses in Weimar und des Bauhauses Dessau orientiert und hieß primer año de prueba (erstes Probejahr).[3]

Die Reform wurde im Oktober desselben Jahres wieder aufgehoben und die neue Ausrichtung der Kunsthochschule im Januar 1929 beendet, aber da hatte sie bereits einen Präzedenzfall für einen Wandel im institutionellen Paradigma geschaffen, der die sozialen Veränderungsprozesse im chilenischen Staat und das Verhältnis von Kunst, Wissenschaft, neuen Technologien, Urbanismus, Bildung und Industrialisierung betraf.

Die escuela activa beruhte auf der Arbeit des schweizerischen Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), der bei der Schaffung von Wissen die eigenen kulturellen Variablen der Schüler*innen berücksichtigte. Das stärkt die Autonomie der Schüler*innen, die so die Realität mit Blick auf die Gemeinschaft und Umwelt, in der sie leben, interpretieren lernen. Friedrich Fröbel (1782–1852) führte dieses Konzept weiter, das für die konstruktivistische Avantgarde von großer Bedeutung war, denn diese Kunstschaffenden stellten jede mechanische Reproduktion von Wissen infrage. Verschiedene Bauhauslehrer wie Johannes Itten und Hannes Meyer setzten bei Anwendung und Perzeption des Interaktionsdesigns auf dasselbe Konzept wie die escuela activa.

[1] Leonora Reyes-Jedlicki. „Profesorado y trabajadores: Movimiento educacional, crisis educativa y reforma de 1928“, Docencia, Nr. 40, 2010, S. 40–47.

[2] Teresa Navarro Cortés. Carlos Isamitt, Semesterarbeit, Universidad de Chile, 1967, unveröffentlicht.

[3] Valerie Hammerbacher, David Maulén. „Vernacular Modernism: Carlos Isamitt and the Founding of the New School of Fine Arts in Chile, 1928“, in: The whole world a Bauhaus, Stuttgart, München: Ifa-Hirmer, 2019, S. 157–162.

Das Konzept wurde in Europa von Maria Montessori, Adolphe Ferrière, Jean-Ovide Decroly sowie Georg Kerschensteiner und in Lateinamerika von José Vasconcelos, José Ingenieros, Carlos Vaz Ferreira und José Carlos Mariátegui weiterentwickelt. In Chile griff nach 1920 auch die Bewegung der Primarstufenlehrkräfte (normalistas), die für die verpflichtende Grundschulbildung verantwortlich waren, gemeinsam mit der Gewerkschaft Federación Obrera de Chile (FOCH) dieses Bildungskonzept auf, das eigenständig parallel zu den Bildungsprogrammen der Regierung umgesetzt wurde.

Nach dem Ersten Weltkrieg versuchten verschiedene Gesellschaften, die Widersprüche der politischen Moderne des 19. Jahrhunderts zu überwinden, die zum bis dato größten Krieg in der Geschichte geführt hatten. Es gab als Teil der revolutionären Bildungsreform in Chile einen Austausch mit Mexiko. Diese Veränderungen wurden auch in der Weimarer Republik wahrgenommen. Die Verfassung der jungen deutschen Republik war 1919 im Deutschen Nationaltheater in Weimar verabschiedet worden. Ähnlich war es 1925 in Chile, als im Stadttheater von Santiago eine verfassunggebende Versammlung tagte. In deren Mittelpunkt stand eine Bildungsreform, die auf der escuela activa fußte.

Verfassunggebende Versammlung der Arbeiter und Intellektuellen, Stadttheater Santiago, 8.–10. März 1925, Diario La Nación.

Der chilenische Präsident Arturo Alessandri Palma und ein kleines Komitee erließen jedoch eine andere Verfassung, worauf die betrogenen Lehrkräfte mit Straßenprotesten reagierten. General Carlos Ibáñez del Campo wurde 1927 Präsident und ermutigte die Lehrenden 1928, das Bildungswesen zu erneuern. Sie bezogen eine Reihe von Themen ein, die in den postkolonialen, institutionellen Strukturen Chiles bisher keine Beachtung gefunden hatten, darunter die Wertschätzung ihrer eigenen Kultur und die Industrialisierung der Bildung.

Zeitschrift des chilenischen Bildungsministeriums, März 1928.

Der hierarchische, vertikale, zentralisierte und von Konzernen gelenkte Staat kollidierte mit der Autonomie und der dezentralistischen Einstellung der escuela activa. Dies war der Kontext, in dem der Vorkurs im ersten Studienjahr an der wichtigsten Kunsthochschule des Landes eingerichtet wurde. 1925 besuchte Carlos Isamitt als (ehrenamtlicher) Vertreter der Grundschullehrkräfte der escuela activa Europa, um die Curricula der neuen Kunstschulen kennenzulernen, die auf die industrielle Anwendbarkeit ihrer Produkte ausgerichtet waren.

Carlos Isamitt war zuvor als Ethnograf tätig gewesen, zu einer Zeit, als es keine institutionelle Wertschätzung für die Populärkultur oder die Kunst der indigenen Amerikaner gab. Von 1910 bis 1918 studierte er erstmals die geometrische, abstrakte Kunst der Völker im Süden Chiles und lebte bei ihnen, um ihre Bedeutungssysteme zu verstehen. Sein Ziel war es, diese beim Unterrichten von Kindern anzuwenden. Er studierte darüber hinaus Pädagogik, Kunst und Musik.

Anwendung der indigenen geometrischen Abstraktion in der frühkindlichen Bildung, unveröffentlichte Arbeit von Carlos Isamitt, 1918, Chile. Archiv der Familie Isamitt-Danitz.

Obwohl die chilenischen Künstler Clara Werkmeister und Gustavo Keller Rüff 1919 und 1920[4] an Johannes Ittens Vorkurs teilgenommen hatten, entstand die Verbindung zu Isamitt im Pavillon der sowjetischen staatlichen Schule für Kunst und Technik, WChUTEMAS, auf der Internationalen Ausstellung für moderne dekorative Kunst und Kunstgewerbe 1925 in Paris: „Die Moskauer Kunstakademie, vereint mit der Schule für Kunst und Handwerk, ist von der Leidenschaft für Innovationen erfüllt. Jeder Studierende, der sich auf die Studiengänge in Architektur, Malerei, Bildhauerei vorbereitet, muss zuerst in einem grundlegenden Kurs die Prinzipien der Farbe, des Volumens und des Raums erlernen.“[5]

1925 beschäftigte sich Isamitt auch mit polnischen, belgischen und österreichischen Schulen sowie mit den Theoretikern Karol Homolacs und Matila Ghyka. 1928 schließlich war er maßgeblich an der pädagogischen Transformation der staatlichen Kunsterziehung in Chile beteiligt.

[4] Magdalena Droste, Anke Blumm, Media Architecture. „PERSONENSUCHE”, in: bauhaus community, 2020, https://bauhaus.community

[5] Carlos Isamitt. „Las artes decorativas de Rusia, Austria y Polonia. Algunos aspectos que se observan en la Exposición de Artes Decorativas de París, nuevos métodos de enseñanza y nuevas concepciones del arte“, El Mercurio, 25. Oktober 1925, S. 9.

Farbübungen aus dem Vorkurs, Art Magazin, Nr. 1, chilenisches Bildungsministerium, September 1928. Archiv der Familie Isamitt-Danitz.
Geometrische Ableitung anhand des goldenen Schnitts in indigenen Keramiken aus Nordchile, Vorkurs, Neue Kunstschule, Chile, 1928. Archiv der Familie Isamitt-Danitz.
Pädagogische Blätter zur Wahrnehmung elementarer geometrischer Formen und des Farbkreises, Neue Kunstschule, Chile, 1928. Archiv der Familie Isamitt-Danitz.

1931 trat der chilenische Diktator Carlos Ibáñez zurück, und zwei Jahre später entstand die Gruppe der Decembristas, die sich mit abstrakter Kunst befasste. Zu ihr gehörte Gabriela Rivadeneira, eine ehemalige Studentin des primer año de prueba des Jahres 1928 und des Kurses über indigene Geometrie bei Abel Gutiérrez am Nationalinstitut während der Reform von 1928.

Mehr als ein Jahrzehnt danach, 1946, richtete die Universidad de Chile einen neuen Lehrplan ein, der vom Bauhaus Hannes Meyers inspiriert war. Ventura Galván, der 1928 am primer año de prueba teilgenommen hatte, leitete den Vorkurs plastische Komposition. 1958 schließlich errichtete Galván eine Designschule innerhalb des neuen Architekturcampus und übernahm die noch bestehende Schule für angewandte Kunst, die Isamitt im Rahmen des Plans von 1928 geschaffen hatte.

Arbeiten von Gabriela Rivadeneira und José Dvoredsky aus der Gruppenausstellung der Decembristas, die in der zweiten Etage des Oberpaur-Gebäudes in Santiago im Dezember 1933 stattfand. Das Foto rechts zeigt das Oberpaur-Gebäude 1937. Archiv der chilenischen Nationalbibliothek.
Vorkurs plastische Komposition, Architekturfakultät der Universidad de Chile, 1946, Professor Ventura Galván. Archiv Osvaldo Cáceres González.
Methoden der Schule für angewandte Kunst, 1933, Archiv der chilenischen Nationalbibliothek.
David Maulen de los Reyes

David Maulen de los Reyes (* 1974) forscht an den Schnittstellen von Kunst, Wissenschaft, Technik und Gesellschaft in Chile und Lateinamerika vor allem im 20. Jahrhundert. Er war regionaler Kurator beim Projekt „The whole world a Bauhaus“ und hat auch über den Einfluss von Hannes Meyers Bauhaus in Chile publiziert. Zurzeit erforscht er die Gebäude für die UNCTAD III (3rd United Nations Conference on Trade and Development) in Santiago de Chile 1973 und die Geschichte der Kybernetik in Lateinamerika.