Nachdem Sándor Bortnyik (1893–1976) nach dem Sturz der kurzlebigen kommunistischen Räterepublik 1919 von Ungarn nach Wien gezogen war, lebte er von 1922 bis 1924 in Weimar. Er war zwar nicht als Studierender am Bauhaus eingeschrieben, pflegte aber enge Kontakte zu den Bauhäusler*innen, besonders zu seinem Landsmann Farkas Molnár[1], und er besuchte den bauhauskritischen Kurs von Theo van Doesburg. Bevor er sich dem Bauhaus annäherte, hatte er bereits in der Galerie Der Sturm in Berlin ausgestellt, und im September 1922 nahm er an der Weimarer Konferenz der Dadaisten und Konstruktivisten teil, die van Doesburg organisiert hatte.

Bortnyiks Gemälde aus der Weimarer Zeit bewegen sich zwischen Konstruktivismus und einer satirischen Kritik dieser Kunstrichtung hin und her. Als Sozialist fühlte er sich der progressiven Utopie geometrischer Abstraktion verpflichtet, er erkannte jedoch auch, dass diese Utopie in einer Welt des Pragmatismus allmählich dekonstruiert wurde. Seine späteren Aktivitäten zeigen, dass ihn das Bauhaus trotz aller anfänglichen Schwierigkeiten und inneren Widersprüche als Vorbild für eine moderne Kunsterziehung beeindruckte, die Verbindungen zur realen Welt der Produktion suchte. Während er in Deutschland war, erlebte er auch den wachsenden Einfluss von Industrie und Wirtschaft und erkannte die Herausforderungen, die diese neu entstehende Welt für die bildenden Künste mit sich brachte.

[1] In einem Interview 1972 erzählte er, wie er Molnár 1921 in Wien kennengelernt und von ihm vom Bauhaus gehört hatte. Vgl. Iván Rozgonyis Interview mit Bortnyik, „Beszélgetés Bortnyik Sándorral“, in: Művészettörténeti Dokumentációs Központ Közleményei, Nr. III, Budapest, 1963, S. 20–28. In seinem Bericht für Eckhard Neumann (Bauhaus und Bauhäusler. Köln: DuMont, 1985, S. 144–149) nennt er als Jahr vermutlich irrtümlicherweise 1922, denn Molnár kam 1921 nach Weimar. ((Abbildung 1))

János Halász: Cover page of Reklámélet, 1932, No. 4. Hungarian national Gallery, Budapest, Copyright: Hungart (www.hungart.org)

1925 kehrte er nach Budapest zurück und beschäftigte sich mit Grafikdesign und Theater. Die Kommerzialisierung der Moderne erreichte in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre auch Ungarn. Ökonomischer Wettbewerb und das Wettrennen um Marktanteile machten Werbung notwendig. Neue Ideen, kühne und überraschende Bilder und Schriften kennzeichneten die ökonomisch versierten Designer*innen, die einen intuitiven Sinn für Psychologie und ein Händchen für knappes, effizientes Design hatten. Bortnyik beurteilte die Lage so, dass „heute Geschäftsleute in der Kunst die Rolle spielen, die Kirchen und Herrscher in der Renaissance und im Barock spielten … Bei der Gestaltung von Fabriken und Bürogebäuden, in der Innenarchitektur, aber vor allem in der Werbung, der Propaganda des Geschäftslebens, hat die Kunst bereits äußerst wertvolle Werke hervorgebracht.“[2] Fortschrittliche Künstler*innen verstanden die Werbung als gesellschaftliche Dienstleistung für die Massen, indem sie diese über neue Produkte informierten und zugleich der Industrie halfen, ihre Kundschaft zu erreichen. Darüber hinaus betrachteten Lajos Kassák und Bortnyik die Werbung als soziale Verantwortung der Künstler*innen, die damit den Elfenbeinturm der reinen Subjektivität und des Ästhetizismus verließen und in die Wirklichkeit eintraten.

Die industrielle Entwicklung in Ungarn hinkte der in Deutschland und Westeuropa um ein paar Jahre hinterher, aber in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre standen sowohl ausländische als auch heimische Unternehmen in scharfer Konkurrenz um die Käufer*innen. Das Interesse an modernem Grafikdesign war ebenfalls spürbar. Bortnyik war 1930 einer der Gründer der Könyv és Reklámművészek Társasága (Vereinigung der Buch- und Reklamekünstler*innen). Zu ihren Mitgliedern gehörten Farkas Molnár, László Moholy-Nagy und Lajos Kassák. Der Verein orientierte sich in Richtung Konstruktivismus und Funktionalismus. 1938 wurde Bortnyik sein Vizepräsident.[3]

[2] Sándor Bortnyik. „Művészet és üzleti élet“. Új Föld, 1927, Bd. 1, S. 11–12.

[3] Katalin Bakos. Bortnyik Sándor és a Műhely. Budapest: L’Harmattan, Kossuth Klub, 2018, S. 104.

Die Idee, eine bauhausartige Schule in Budapest zu gründen, stammte aus einem gemeinsamen Konzept von Bortnyik, dem Architekten Molnár, dem Architekturkritiker Pál Forgó und dem Dichter Árpád Szélpál (1897–1987), die zunächst die Új építők társasága (Vereinigung neuer Architekt*innen) bildeten.[4] Wie Bortnyik in unserem Interview im Jahr 1972 sagte, und wie er in mehreren Artikeln[5] über die Műhely angekündigt hatte, plante er ein ehrgeiziges Schulprojekt, dessen Lehrplan Architektur, Theorie, Produktdesign für die Massenproduktion, Geschichte und Grafikdesign umfasste. Die Schule wurde in seiner eigenen Wohnung in Budapest eröffnet[6], sehr viel bescheidener, als er sich ursprünglich vorgestellt hatte. Der Schwerpunkt der Schule lag auf Werbung. Einige der Műhely-Absolventen wurden international berühmte Künstler*innen in unterschiedlichen Bereichen, darunter der Filmemacher János Halász (John Halas, 1912–1995), der Maler Vásárhelyi Győző (Victor Vasarely, 1906–1997) und seine Frau Klára Spinner (Claire Vasarely, 1908–1997), die Fotografin Ata Kandó (1913–2017), ihr Ehemann, der Maler Gyula Kandó (1908–1968), und die Malerin und Grafikdesignerin Vera Csillag (1909–1997). Gyula Macskássy (1912–1971), ungarischer Zeichner von Animationsfilmen, sowie die Grafikdesigner Tibor Szántó (1912–2001) und György Radó (1912–1994) studierten ebenfalls an der Műhely. Die meisten Studierenden nahmen an den Abendkursen der Schule teil, weil sie tagsüber arbeiteten, ihre Fähigkeiten aber verbessern mussten oder eine systematische, professionelle Ausbildung brauchten.[7]

1929 zog die Műhely in Bortnyiks Atelier in der Nagymező-Straße 3 um. Weil es an Atelierräumen und Geld fehlte, musste er die Idee von Keramik- und Architekturateliers aufgeben. Und obwohl er keine bekannten Künstler anstellen konnte, lud er Molnár und den Literatur- und Filmtheoretiker Iván Hevesy (1893–1966) ein, Vorträge zu halten. Die Műhely hatte kein endgültiges Curriculum, aber Bortnyik nutzte grundlegende geometrische Formen, um visuelle Komposition und Rhythmus zu lehren.[8] In unserem Gespräch 1972 unterstrich er, dass er eher der Ästhetik von van Doesburg und De Stijl als der Methodik von Johannes Itten aus den ersten Bauhausjahren folgte.

[4] Ebda., S. 129.

[5] Pesti Napló, 26. September 1928, S. 13; Magyar Grafika, 1928, Nr. 9–10, S. 255–258.

[6] Seine Adresse war Damianich-Straße 32.

[7] Bortnyiks persönliche Mitteilung; siehe auch Bakos (Anm. 3), S. 175.

[8] Bortnyiks Brief an Victor Vasarely vom 24. Juni 1966 wird zitiert in Bakos (Anm. 3), S. 138

Sándor Bortnyik: book cover page for "Hatscchek és Farkas", ca. 16x33 cm, 1933, Copyright: Hungart
Sándor Bortnyik: Modiano, 1926 lithograph, Országos Széchenyi Könyvtár (National Széchenyi Library), Budapest, reproduced in Magyar Grafika, 1929, No. 1-2, p.3. Copyright: Hungart

Das eigentliche Ziel der Műhely war es, die moderne visuelle Sprache im ungarischen Grafikdesign zu legitimieren, vor allem in der Werbung und auf Plakaten. Während es tatsächlich Bedarf für effiziente Werbung gab und eine moderate moderne visuelle Sprache in Ungarn bereits in Mode war, hatte diese Bemühung auch einen politisch linksgerichteten Unterton, denn sie lehnte die Bildsprache des konservativen, überdekorierten Mainstreams ab, in der nationalistische und religiöse Motive zuhauf vorkamen. Teil dieser ausdrücklich fortschrittlichen visuellen Sprache war die Nutzung fotografischer Details, denn die Fotografie war das modernste Medium jener Zeit.

Verglichen mit den offiziell akzeptierten und popularisierten figurativen Arbeiten, die für das „Ungarischsein“ warben, waren die Einfachheit und Funktionalität der Műhely-Entwürfe internationalistisch und progressiv. Die Schlichtheit der Grafikdesignarbeiten, die in der Műhely geschaffen wurden, standen für Maschinenästhetik, industrielle Realität und rationale Planung. Das spiegelte sich in dem wider, was Jan Tschichold „neue Typografie“ nannte und was die Studierenden in der Műhely schufen: ein effizientes Mittel, um Opposition gegen den Konservatismus zu kommunizieren. Wie Bortnyik es für Eckhard Neumann zusammenfasste, war es seine Absicht, eine Institution einzurichten, die die Prinzipien des Bauhauses übernahm und eine Ausbildung in unterschiedlichen Bereichen hätte anbieten sollen. Er stieß jedoch weder auf offizieller Seite auf Interesse an dem Projekt noch fand er private Unterstützung. Darum musste er die Aktivitäten der Schule auf freies und angewandtes Grafikdesign im Geist des Konstruktivismus beschränken.[9]

Da es am Bauhaus viele ungarische Studierende und Lehrkräfte gab, war es für eine Kunstschule wie die Műhely in Budapest ein wertvoller und vielsagender Bezugspunkt. 1938, als bereits viele Studierende ausgewandert waren, konnte sich die Schule finanziell nicht mehr halten und musste geschlossen werden.

 

[9] Neumannn (Anm. 1), S. 149.

Éva Forgács

ist Kunsthistorikerin, Kritikerin und Kuratorin und außerordentliche Professorin für Kunstgeschichte am Art Center College of Design in Pasadena, Kalifornien. Sie ist Autorin von The Bauhaus Idea and Bauhaus Politics (Central European University Press 1995) und zahlreicher Essays über verschiedene Aspekte des Bauhauses. Sie hat über den Vergleich zwischen dem Bauhaus und der Moskauer VKhUTEMAS sowie über die ungarische Beteiligung am Bauhaus geforscht und veröffentlicht.